Kfarnabrak. Die syrischen Flüchtlingskinder im Libanon sind groß geworden und haben viel gelernt, manche sogar in der Schule. Corona bremst sie erneut aus.

Vielleicht konnte es nicht mehr schlimmer kommen für die syrischen Flüchtlingskinder im Libanon. Der Krieg, die Flucht, der Hunger, die Gewalt, die Angst, der Tod. Das Corona-Virus? „Ich respektiere es, zuhause bleiben zu müssen“, sagt Lamees. Sie ist jetzt 17 und muss zehn gewesen sein, als sie mit Eltern und Geschwistern über die Grenze floh. Sie kamen aus Aleppo: Es bedeutet viel, dass Lamees überhaupt ein „Zuhause“ hat, in dem sie sich geschützt fühlt.

Als die WAZ 2014 und 2015 im Libanon war, oben in den winterkalten Bergen nahe der syrischen Grenze, wohin sich die meisten Menschen aus dem Nachbarland gerettet haben: Da haben wir gesehen, wie sie (über-)lebten in Verschlägen, in schimmeligen Kellern, in zugigen Unterständen, in unfertigen Garagen. Wir haben Kinder kennen gelernt wie Lamees und wie Hadi, die uns nun, fast erwachsen, aus einem Videochat entgegenlachen. Kinder, die nicht mehr lachen konnten, weil sie den Tod gesehen hatten, tausendfach und aus nächster Nähe.

Helfer bauten den Kindern das „Haus der großen Liebe“

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Wir sind zweimal dort gewesen, weil die Not so groß war und die Hilfe auch: Kindernothilfe-Parter Amurt baute damals das „Haus der großen Liebe“ ins Chouf-Gebirge, ein Kinderzentrum, wo Fröhlichkeit wohnte und Gesang und auch ein bisschen Schule – denn für die vielen Flüchtlingskinder hatten die libanesischen Schulen einfach keinen Platz. Tausende traumatisierte Kinder wurden über die Jahre dort betreut, auch weil WAZ-Leser fast eine halbe Million Euro spendeten. Für Waasem, der nicht hören konnte und seiner Mutter helfen musste, Munition zu verpacken. Für Shireen, die so gut das Geräusch von Bomben nachmachen konnte, für Maria, die vor Kummer nicht mehr sprach, für Safaa, die statt zu malen nur ausradierte, was sie vergessen wollte. Für Fadi, der so aggressiv war nach dem Tod seiner kleinen Schwester – bis er endlich in die Schule durfte. So stolz.

Kein Land hat, gemessen an seiner eigenen Einwohnerzahl, mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen, heißt es in Berichten. Aber was heißt schon „aufgenommen“: Sie leben irgendwie, bald zwei Millionen Syrer unter vier Millionen Libanesen, haben Mühe, Arbeit zu finden, Wohnraum, der diesen Namen verdient, etwas zu essen. Hilfen gibt es keine. Mehr als die Hälfte lebt unterhalb der Armutsgrenze. Talal El Halabi, der Präsident von Amurt, sagt, wenigstens gebe es inzwischen weniger Gewalt; die Zugezogenen hatten die Probleme der Einheimischen ja noch größer gemacht. Und dann kam im Frühjahr auch noch Corona und im Sommer die furchtbare Explosion im Hafen von Beirut… „Es ist alles Chaos hier“, sagt El Halabi.

Kurse im Jugendclub fanden wegen Corona ein jähes Ende

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Wo soll man da anfangen? Für die Jugendlichen hatten sie zuletzt den Youth Media Club, einen Jugendclub, in dem sie lernten, sich auszudrücken in Wort und Bild, sie haben eine Zeitung gemacht und Videos. Die Filme heißen „Es ist nicht unser Krieg“ oder „Lachen, um zu vergessen“. Hadi und Lamees sagen, es habe ihre Persönlichkeit gestärkt, sie haben viel fürs Leben gelernt. Teamarbeit, Verantwortung, Disziplin, das haben die Dozenten den Teenagern mitgegeben, durch den Stillstand, heißt es im Projektbericht, sei ihre „persönliche Entwicklung fast vollständig zum Erliegen gekommen“. Der Junge Ahmad fragte vor der Kamera: „Wie soll ich mich entwickeln, wenn meine Perspektive nur der heutige Tag ist?“ Den letzten Kurs haben sie abbrechen müssen, als der erste Lockdown kam. „Ich bin gerne hingegangen“, sagt Hadi, „das fehlt.“

Hadi musste die Schule nach der dritten Klasse verlassen: Die Familie floh

Videokonferenz mit dem Libanon: WAZ-Reporterin Annika Fischer (o.) spricht mit Lamees, Hadi und Angelika Böhling, Sprecherin der Kindernothilfe (v.r.).
Videokonferenz mit dem Libanon: WAZ-Reporterin Annika Fischer (o.) spricht mit Lamees, Hadi und Angelika Böhling, Sprecherin der Kindernothilfe (v.r.). © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Sonst hat Corona, dieses Virus, dessen Name dauernd auftaucht in Hadis arabischem Redefluss – dieses „Corona-Virus“ also hat sein Leben gar nicht so sehr verändert. Schulen geschlossen? Hadi war schon vorher nicht mehr dort, er war acht, als er zum letzten Mal hingehen konnte, vor seiner Flucht. Er war in der dritten Klasse. Das ist für ihn das Schlimmste, „very hard“, sagt er auf Englisch. Im Club hat er wenigstens etwas lernen können, er sagt, er versteht jetzt mehr von der Welt.

Hadi war immer schon „neugierig“, wissbegierig, meint er wahrscheinlich, es ist ja ein bisschen schwierig mit der Verständigung über zwei Sprachen und eine wackelige Verbindung hinweg. Obwohl, die Leitung von Hadi ist gut, das muss sie auch sein: Der 18-Jährige will Youtuber werden, zu welchen Themen, weiß er noch nicht, aber jedenfalls: „Ich will was für die Gesellschaft tun.“ Es geht ihm um Freiheit, um Menschenrechte.

Große Träume – wahrscheinlich werden sie Träume bleiben

Lamees dagegen will schreiben, sie wollte schon vor dem Youth Club Journalistin werden, „wusste aber nicht, wie man schreibt“. Sie hat es dort gelernt, jetzt soll es sogar gleich ein ganzes Buch werden. Worüber, Lamees? Über mein Leben, sagt sie, über das der anderen geht ja nicht, um sie herum sei schließlich wegen Corona alles geschlossen. (Nur das Fußballtraining der Mädchen, das findet tatsächlich noch statt.)

2015: Flüchtlingsmädchen Shireen macht Hausaufgaben auf dem Fußboden. Inzwischen muss sie 18 sein.
2015: Flüchtlingsmädchen Shireen macht Hausaufgaben auf dem Fußboden. Inzwischen muss sie 18 sein. © KNH | Jakob Studnar

Große Träume, und vielleicht werden es Träume bleiben. Lamees lacht: „Keine Schule, keine Universität“, wie soll man da Journalistin werden können? Sie lacht wirklich darüber, sie ist dieser Typ Mensch, der mit seiner bloßen Anwesenheit einen Raum füllen kann. Lamees füllt gerade den Bildschirm. Wie sie strahlt! Sie arbeitet jetzt an der Kasse in einem kleinen Laden, Hadi hilft seinem Vater bei Klempnerarbeiten. Manchmal.

Neues Projekt fördert Talente

Aber die Kindernothilfe gibt nicht auf, sie hoffen, sagt Talal El Halabi, dass im Januar ein neues Projekt starten kann, Corona hin oder her. Es wird ein „Community Arts Center“, sie wollen dort den Kindern helfen, ihre Kreativität, ihre Talente zu entfalten. Theater wird es geben, Fotokurse, Tanz- und Malstunden und, ganz nebenbei, psychologische Hilfen und solche für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Kindernothilfe hat schon zugesagt. Hadi, Lamees und so viele andere Kinder aus Syrien, die im Libanon erwachsen werden: Sie werden es brauchen. Denn zurück nach Hause können sie nicht, sie wollen es auch nicht. Hadi hat einen Moment überlegt, aber dann eilt seine kleine Schwester ins Bild, flüstert ihm entrüstet etwas ins Ohr. „Nach Syrien“, sagt Hadi entschlossen, „auf keinen Fall. Da ist Krieg.“

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>>INFO: DAS SPENDENKONTO VON WAZ UND KINDERNOTHILFE

Hier können Sie Kindern helfen: Das Spendenkonto für die Weihnachtsspenden-Aktion von WAZ und Kindernothilfe hat dieselbe Nummer wie in vergangenen Jahren.

Empfänger: Kindernothilfe

Stichwort: Corona – Hilfe für Kinder weltweit

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