Essen. Ein Expertenkreis in NRW will den Amoklauf von Winnenden aufarbeiten. Doch Schülervertreter sind unzufrieden mit dem bisherigen Ergebnis. Neues Waffenrecht, Videoüberwachung, Verbot von Ballerspielen - das alles helfe nichts. Es sei die Schule selbst, die Kinder zur Verzweiflung treibe.
Das Drama von Winnenden hat viele Experten auf den Plan gerufen. Manche fordern ein neues Waffenrecht, andere die Videoüberwachung an Schulen und das Aus für PC-Ballerspiele. „Das greift alles viel zu kurz”, sagen Dilan Aytac (18), Johannes Struzek (19) und Kai Inboden (20) von der Landesschülervertretung NRW.
Sie haben eine andere Theorie, woher die extreme Gewalt kommt: Es sei die Schule selbst, die Kinder zur Verzweiflung treibe. „Schule ist kein freundlicher Ort. Schule ist oft wie Knast”, meinen Dilan, Johannes und Kai.
Die Drei gehören zu einem „Expertenkreis zur Aufarbeitung von Amokläufen”, haben dessen Einrichtung sogar vorgeschlagen. Schulministerin Barabara Sommer fand die Idee gut und lud ein: Politiker, Feuerwehrleute, Polizisten, Psychologen, Versicherungsvertreter . . .
Die Runde ist groß. Nur diejenigen, die das Thema wohl am meisten betrifft, spielen keine große Rolle: die Kinder und Jugendlichen. Wenn Johannes nicht noch auf eigene Faust Kai und Dilan mitgenommen hätte, dann wäre er der einzige Schüler unter 50 Gästen gewesen.
Die Lehrer schweigen
Das erste Treffen verlief enttäuschend. „Wir hatten den Eindruck, dass es vor allem darum ging, Notfallpläne durchzusprechen. Im diesem Notfall-Ordner stehen zum Beispiel Muster-Todesanzeigen und Anleitungen zum Bau eines Trauertisches. Wichtig scheint es auch zu sein, im Falle eines Amoklaufs Zurückhaltung gegenüber der Presse zu üben. "Aber keiner denkt über die Ursachen für Gewalt nach”, ärgert sich Kai.
Es ist zum Beispiel das Schweigen der Lehrer, das Schüler unerträglich finden. Nach Winnenden habe es einen „enormen Drang” gegeben, mit Pädagogen über diese Tat zu sprechen. „Aber in vielen Schulen gab es diese Angebote nicht”, versichert Dilan. Sie will dies nicht als Lehrer-Schelte verstanden wissen: „Die sind doch gar nicht dafür ausgebildet, die Probleme junger Leute zu erkennen. Sie haben auch keine Zeit für uns, weil die Klassen viel zu groß sind und sie ihren Stoff vermitteln müssen. Turbo-Abi, Kopfnoten, Zentralabitur – Das ist alles furchtbar eng gestrickt. Für Schüler und Lehrer.”
"Videoüberwachung macht Schule immer knastähnlicher"
Zu sehen gäbe es viel hinter den Kulissen: Kinder, die ihre Unterarme mit Klingen anritzen, die heimlich Alkohol trinken, spontan in Tränen ausbrechen oder Unmengen Süßigkeiten in sich hineinstopfen. „Sie drehen durch, weil der Druck so groß ist. Weil sie wissen, dass sie mit ihrem Haupt- oder Realschulabschluss heute kaum noch Chancen haben. Da lernen Hauptschüler im Unterricht, wie man einen Hartz-IV-Antrag ausfüllt. Das ist gut gemeint, aber wer solche Signale bekommt, der fühlt sich miserabel”, sagt Kai.
Dilan wünscht sich Sozialpädagogen an den Schulen. Männer und Frauen, die nicht direkt zum Schulbetrieb gehören und denen man sich anvertrauen kann. Auf ihrer Wunschliste stehen auch Räume, in die sich Kinder zurückziehen könnten. Räume, die nicht diese ärmliche, triste und lebensunfreundliche Stimmung verbreiten.
Dilan: „Wir reden über Videoüberwachung, und machen damit die Schule immer knastähnlicher. Wir reden über ,Counterstrike', aber das ist im Grunde nebensächlich. Diese Spiele haben etwas mit Machtausübung zu tun, das macht sie so reizvoll. In der Schule fühlst du dich nämlich machtlos. Schule müsste sich so verändern, dass niemand mehr die Lust hat, ihr etwas anzutun.”