Winnenden. Drei Monate nach dem Amoklauf versuchen Eltern, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben: Sie fordern schärfere Waffengesetze.
Das Schild hängt noch an der Hauswand. „Schober Finanzen. Beratung, Betreuung, Vermittlung” steht darauf. Und wer einen Blick durch die Erdgeschoss-Fenster des Büros wagt, sieht, wie geschäftig es dort zugeht. Vier Kilometer von Winnenden entfernt, in einem adretten Mehrfamilienhaus des schwäbischen Dorfes Nellmersbach dreht sich die Welt jedoch längst nicht mehr um Monetäres, um Zinsen oder Renditen. Mit dem 11. März, jenem Tag, an dem Hardy Schober seine Tochter Jana verlor, gibt es für ihn nur das eine Thema. Den Amoklauf, seine Hintergründe, und wie er andere vor diesem Schicksal schützen kann.
Der Mann kann nicht stillsitzen. Eilt lieber zum Telefon, beredet, überzeugt, organisiert. Alles, nur nicht nichts tun. Auf eine „brutale, knallharte Art” ist ihm an diesem 11. März bewusst geworden, dass das Leben endlich ist. „Es wird einem aufgezwungen. Dein Kind ist tot! Da fragt keiner: Willst Du das? Kannst Du das?”, sagt der 49-Jährige.
Aktion als Art zu trauern
Schober stürzte sich in diese Arbeit, lebt seither vom Ersparten. Bereits eine Woche nach der Trauerfeier gründete er mit acht anderen Familien das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden”. Es ist seine Art zu trauern, mit dem schwer Fassbaren fertig zu werden.
Jana, Chantal, Christine und Elena, die Freundinnen aus der 9c. Sie hocken nebeneinander an diesem Tag, wie fast immer. Dann reißt er die Tür auf und schießt. Es ist Tim K.s altes Klassenzimmer in der Albertville-Realschule, der Raum der 10d, und die vier Mädchen sitzen hinten, direkt im Schussfeld. Drei Mädchen sterben, sechs Klassenkameraden werden verletzt. Elena, die vierte der Freundinnen, überlebt, weil der erste Schuss, ein Schulterschuss, so heftig ist, das sie in sich zusammensackt. Die nächste Kugel streift sie zum Glück nur am Hals.
Weiler zum Stein, der winzige Ort, liegt eingebettet zwischen Hügeln, Weinbergen und Obstwiesen. Hier lebte Tim K.mit seiner Familie, hier wohnten die drei Freundinnen. Jetzt liegen sie nebeneinander begraben auf dem Friedhof. Es ist ein schwüler Frühlingstag, der wärmste Tag im Mai. Vögel zwitschern, die Landschaft strunzt mit ihrer Leichtigkeit. Kein Tag, um Friedhöfe zu besuchen, schon gar nicht diese Gräber. Noch immer sind sie mit Blumen geschmückt, mit Plüschbären und Porzellan-Engeln dekoriert. Auf einem Foto, das jemand in Folie zwischen das Grün gesteckt hat, erkennt man drei fröhliche Mädchen, auf einer Matratze sitzend. Es sieht aus, als hätte sie jemand mit dem Handy fotografiert.
Tim K.s Familie hat ihr weißes Einfamilienhaus mit den Koi-Karpfen im Gartenteich verlassen. Sie kam nicht mehr zurück nach Weiler zum Stein, lebt angeblich unter anderem Namen anderswo. Die Jalousien also sind heruntergelassen. Der mittelständische Betrieb des Vaters im benachbarten Affalterbach werde ohne den Chef weitergeführt, heißt es.
Hardy Schobers Büro ist übersichtlich. Zwei Schreibtische, ein Aktenschrank, ein kleiner Tisch. Waffen 1, Waffen 2, Waffen 3 . . . hat er mit Filzer auf die Ordner geschrieben. Schober ist im Schnellverfahren zum Waffenexperten geworden. Drei Wochen nach dem Amoklauf haben ihn Kriminaltechniker zum Tatort geführt. „Da habe ich zum ersten Mal gesehen, welche Durchschlagkraft die Tatwaffe, die Beretta 92-FS 9 Millimeter, hat. Der Täter schoss vom Gang aus in den Physikraum, durch die massive Tür. Das Geschoss durchschlug den Körper der Lehrerin, trat aus und hinterließ im Alurahmen des Fensters ein 4,5 Zentimeter großes Loch”, erzählt Schober. Sein Aktionsbündnis fordert ein Verbot großkalibriger Waffen und von Faustfeuerwaffen in Privathaushalten.
Erschossen in der Freistunde
Frau Mayer kommt vorbei. Gisela Mayer ist die Mutter von Nina Mayer, der 24-jährigen Referendarin für Deutsch, Mathematik und Religion. Nina hatte eine Freistunde zum Kopieren genutzt, als sie im Stockwerk über sich Geräusche hört. Mit einer anderen Lehrerin eilt sie nach oben, als Tim K. auf sie zukommt und schießt. „Er hat einfach geschossen. So einfach ist das!”, sagt Gisela Mayer, die selbst Lehrerin ist. Auch sie arbeitet wieder. Wie eng sie mit Nina war, darüber kann sie reden, in beinah fröhlichem Ton.
Doch lieber spricht sie über das Aktionsbündnis, darüber wie es ihnen Halt gibt. Kraft. „Wir wollen diesem völlig sinnlosen Geschehen einen Sinn geben.” Über ihr, an der Wand, hängt ein Kalender mit den Geburtstagen aller Opfer. Jana Schober war am 30. Januar 15 Jahre geworden.