Ruhrgebiet. Pöbeln, mobben, prügeln: Der Schulalltag in NRW wird rauer, „Gewalt ist vielfältig“, sagen Pädagogen. Wie sie versuchen, gegenzusteuern.

An einer Oberhausener Gesamtschule knallt ein Siebtklässler seine Lehrerin mit dem Rücken gegen die Tafel, zerreißt dabei ihr Kleid, sodass sie entblößt vor der Klasse steht. Das war im Frühsommer. Und jetzt: schlägt eine Hauptschule in Gelsenkirchen Alarm. Wiederholt müssen Polizei und Ordnungsdienst eingreifen und Schlägereien, teilweise unter großen Schülergruppen, beenden. Aggressive Auftritte von Eltern kommen hinzu.

Eine Gesamtschule in Duisburg berichtet von monatelangen Problemen mit Schulfremden, die Drogen konsumieren und Schülerinnen und Schüler anpöbeln. Um Mobbing vorzubeugen, findet an einer Essener Grundschule regelmäßig ein Sozialtraining zu „gewaltfreiem Lernen“ statt.

Krisenzeit verstärkt Unsicherheit

Mit Bränden hat die Essener Gesamtschule Bockmühle zu kämpfen. Kürzlich legten Unbekannte das vierte Feuer in fünf Jahren. „Wir sehen, dass die Gewalt auch im schulischen Kontext zugenommen hat“, sagt Schulleiterin Julia Gajewski. Ursache sei ein „gesellschaftlicher Wandel“, ein Schlagwort, das nur schwierig greifbar ist. „Eine schleichende Entwicklung, bei der wir genau prüfen müssen, woher sie kommt“, sagt die Leiterin der Gesamtschule im Stadtteil Altendorf, einem sozialen Brennpunkt. Etwa 80 Prozent ihrer Schüler kommen mit Hauptschulempfehlung, etwa 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund, rund 60 Prozent leben in prekären Verhältnissen.

In der Corona-Zeit habe es vielen Schülern an Struktur gefehlt, nennt Gajewski einen Grund für die Gewaltzunahme. Nicht alle seien nach der abgebrochenen Schulbeziehung „wieder zurück im Boot“. Die aktuelle Krisenzeit verstärke die Unsicherheit vieler Schüler. Wohnungen bleiben kalt, Eltern stehen in der Schlange bei den Tafeln an: „Die Nöte übertragen sich auf die jungen Menschen.“ Diese Lebensunsicherheit äußere sich häufig entweder durch Rückzug oder aber durch Gewalt.

Essener Gesamtschule: Ordnungsdienst ist rund um die Uhr im Einsatz

An der Gesamtschule Bockmühle müssen seit einiger Zeit Ordnungskräfte rund um die Uhr für Sicherheit sorgen. „Das wollte ich nie“, sagt die Schulleiterin, „musste aber akzeptieren, dass es so besser ist.“ Die „strukturelle Armut“ im nördlichen Ruhrgebiet müsse endlich von der Politik aufgebrochen werden. Als ein Beispiel dafür nennt sie die Durchmischung der Schulformen. Wichtig ist ihr zu betonen, dass unter der Gewalt und Unruhe vor allem die vielen jungen Menschen leiden, die in der Schule dranbleiben und weiterkommen wollen. Denn das Laut-Sein, Zu-Spät-Kommen und Pöbeln einiger Schüler im Unterricht „geht vielen Mitschülern auf den Keks“, sagt Gajewski.

Dass die Gewalt von Schülern und Eltern gegen Lehrkräfte seit der Corona-Pandemie zunimmt, bestätigt auch die neue Schulleitungsumfrage des Forsa-Instituts im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Schulleitungen in NRW berichten häufiger als noch vor zwei Jahren von Mobbing (73 Prozent), Diffamierung über das Internet (41 Prozent) oder sogar körperlichen Angriffen (46 Prozent).

Gewalt in allen Schulformen

„Gewalt spielt in allen Schulformen eine große Rolle“, sagt Uwe Schledorn, Mitglied im Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW. Er selbst unterrichtet als Sonderpädagoge an einer Förderschule im Kreis Mettmann. Förderschulen seien vorne mit dabei, Haupt- und Gesamtschulen ebenfalls über dem Schnitt. Auch Gymnasien und sogar Grundschulen verzeichneten Angriffe. Aber: „Gewalt ist vielfältig“, sagt Schledorn.

Während Schüler einer Förder- oder Hauptschule mehr körperliche Gewalt anwendeten, werde in einem Gymnasium eher gemobbt und ausgegrenzt. Zudem nehme die GEW die Gewaltdelikte der Schüler unabhängig von ihrer Herkunft wahr. Häufig scheuten sich Lehrkräfte davor, „entschieden Grenzen zu setzen“, beobachtet Schledorn, „und, wenn nötig, die Polizei einzuschalten.“ Wichtig sei, als Schule die Probleme nicht abzutun. „Da braucht es eine genaue Bestandsaufnahme.“

Mit Ausnahme der Berufskollegs: „In dieser Schülergruppe kommen Gewaltdelikte eher selten vor“, sagt Michael Suermann, Vorsitzender des Verbands der Lehrerinnen und Lehrer an Berufskollegs NRW (VLBS). Die duale Ausbildung mache den jungen Menschen bewusst, dass Handlungen Konsequenzen haben. „Die Schüler wissen auch, dass ihr Ausbildungsplatz daran hängt, wenn sie sich danebenbenehmen“, so Suermann.

Elternangriffe auf Lehrkräfte

Eine höhere Gewaltbereitschaft gegenüber Lehrkräften beobachtet Uwe Sonneborn, Mitglied im Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW, nicht grundsätzlich bei den Schülerinnen und Schülern – sondern eher bei einigen Eltern. „Das ist zum Teil harter Tobak.“ Immer häufiger stellten die Erziehungsberechtigten die Autorität von Lehrkräften in Frage. „Der Erziehungs- und Bildungskonsens ist nicht mehr der gleiche wie früher“, sagt Sonneborn.

Wenn sich Missverständnisse hochschaukelten, folgten oft verbale Auseinandersetzungen, Drohungen und manchmal sogar körperliche Gewalt gegen Lehrkräfte. Es komme vor, dass sich Eltern vor ihre Kinder stellten, mit den Lehrkräften diskutierten und damit zum Beispiel den pünktlichen Start des Unterrichts verhinderten. „Da bleibt ein Vater zu Beginn des Unterrichts dann auch mal mit im Klassenraum“, so Sonneborn.

Cybermobbing ist auch an NRW-Schulen ein großes Thema

Unter den Schülern selbst „ist Mobbing ein großes Thema geworden“, sagt Sonneborn – verstärkt durch die schwarzen Kacheln, hinter denen sich einige in der Corona-Pandemie beim Homeschooling versteckt und nebenher Cybermobbing betrieben haben. „Die Folgen davon spüren wir jetzt vor Ort in den Schulen“, so Sonneborn. Vermehrt sei es zu körperlichen Auseinandersetzungen unter Schülern gekommen. Hier nähmen Lehrkräfte die Eltern in die Pflicht, ihre Kinder über die Gefahren im Netz aufzuklären. „Es braucht mehr Kontrolle.“ Schulen hingegen müssten ihre Schützlinge deutlicher auf sprachliche Achtsamkeit hinweisen.

>>>Lesen Sie auch: Aufklärung über Sexting: Wenn Schüler Oralverkehr filmen

In den meisten Fällen sei das aggressive Verhalten von Schülern schlichtweg ein Hilferuf – auf den die Schule allein nicht reagieren könne. Sonneborn: „Ein verhaltensauffälliges Kind wünscht sich vor allem Zuwendung, die es teilweise von zu Hause nicht bekommt.“