Dortmund. Trotz Schwächen in den Basis-Kompetenzen legen immer mehr Abiturienten in NRW ein Einser-Abi ab. Bildungsforscherin sieht dafür mehrere Gründe.
Gut 70.000 junge Menschen starten am 19. April ins Abi 2023. Die Chance, dass wieder mehr Schülerinnen und Schüler ein sehr gutes Abi hinlegen, dürften erneut ein wenig steigen. Denn der Trend zu guten Abiturnoten hielt in den vergangenen Jahren an: Fast jeder dritte Abiturient (29,7 %) in NRW hatte 2022 eine eins vor dem Komma. Die Durchschnittsnote lag wie im Vorjahr bei 2,4.
Zum Vergleich: 2014 schafften 22 Prozent einen Notenschnitt zwischen 1,0 und 1,9; im Jahr 2017 waren es bereits knapp 24 Prozent. Wird das Abi immer einfacher? Sinken die Anforderungen in den Prüfungen? Oder sind die Schülerinnen und Schüler zielstrebiger und fleißiger geworden? Darüber sprach Christopher Onkelbach mit der Dortmunder Bildungswissenschaftlerin Prof. Nele McElvany.
Sind die Schülerinnen und Schüler heute schlauer und fleißiger als früher?
Nele McElvany: Tatsächlich folgt NRW einem Trend, der auch in anderen Bundesländern erkennbar ist. Schaut man jedoch auf die Kompetenzen der Jugendlichen, dann geben die Tests keine Anhaltspunkte dafür, dass die Schülerinnen und Schüler in den Grundfähigkeiten besser geworden sind, also etwa in Mathematik oder Lesefähigkeit. Da sehen wir sogar eher eine Verschlechterung.
Was sagen gute Abitur-Noten dann aus?
Die Abiturnoten sagen nicht nur etwas über die allgemeinen Kompetenzen aus. Was sie auch darstellen, ist zum Beispiel Motivation, Beteiligung, Hausaufgaben, Fleiß, Lernbereitschaft und die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Die Note ist zudem ein guter Vorhersagewert, ein Prädikator für den späteren Erfolg im Studium.
Wer ein Einser-Abi hat, schafft auch mit Erfolg ein Studium?
Ja, das ist statistisch ein ziemlich robuster Befund. Die Abiturnote sagt den Studienerfolg ziemlich gut voraus.
Wie erklärt sich der Trend zu einem besseren Notendurchschnitt?
Ganz genau wissen wir das nicht. Hier spielen vermutlich mehrere Faktoren hinein. Ein Punkt ist, dass die Lehrkräfte ihre Schüler offenbar zielgenauer auf die Anforderungen vorbereiten. Trotz des Zentralabiturs können die Länder immer noch selbst entscheiden, welche Aufgaben sie aus dem Pool wählen. Zudem stehen die Schulen in einem deutlich stärkeren Wettbewerb untereinander als früher.
Was meinen Sie damit?
Ein guter Abiturdurchschnitt ist für viele Schulen eine Frage des guten Rufs und ein Argument beim Werben um gute Schüler. Und für viele Eltern ist der Abiturdurchschnitt ein Argument dafür, an welcher Schule sie ihr Kind anmelden. Dieser Wettbewerbsdruck unter den Schulen hat nach meiner Wahrnehmung zugenommen, vor allem in größeren Städten mit vielen konkurrierenden Gymnasien. Es gibt regelrechte Ranglisten für Schulen, das ist ein Thema für ehrgeizige Eltern.
Trotz mehr Einser-Abis stieg zuletzt die Zahl derjenigen, die nicht bestanden haben. Wie erklärt sich diese Spreizung?
Die Durchfallquote ist in NRW mit 4,5 Prozent im Jahr 2022 immer noch relativ gering. Manche Länder lassen konsequenter durchfallen, wie Mecklenburg-Vorpommern mit einer Quote von zuletzt fast sieben Prozent. In Thüringen hingen fällt kaum ein Abiturient durch. Für NRW gilt aber, dass die Durchschnittsnote etwas besser geworden ist.
Sind Schüler heute mehr auf gute Noten fixiert?
Sie sind vielleicht pragmatischer geworden. Sie wissen, welche Noten sie benötigen, um ein bestimmtes Fach zu studieren. Sie sind sehr gut über die Anforderungen informiert und wissen, welcher Numerus clausus für ihren Wunschstudiengang an ihrer Wunschuniversität gilt. Diese Informationen sind ja heute nur ein paar Klicks entfernt.
Wie schauen Sie auf die regelmäßig auflodernde Debatte über eine angebliche Noteninflation?
Ich denke, dass lässt sich so pauschal nicht behaupten. Es gibt sehr anspruchsvolle Schulen, wo Schülerinnen und Schüler sehr viel leisten müssen für ein gutes Abitur. Aber es gibt auch das andere Phänomen, wo man ohne besonders großen Aufwand eine recht gute Note schafft. Das wurde auch befördert durch den politischen Willen, vielen jungen Menschen ein Abitur und damit ein Studium zu ermöglichen.
Ist das nicht ungerecht?
Ja, manche schaffen das Abi mit minimalem Aufwand. Das ist schon unfair gegenüber anderen, die es schwerer haben. Es gibt eine Spreizung unter den Schulen. Viele Lehrkräfte sind jahrelang an einer Schule, und das soziale Umfeld bestimmt die Maßstäbe der Bewertung mit. Das Zentralabitur sollte für mehr Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit sorgen. Aber wir haben derzeit kein konsequentes Zentral-Abi mit gleichen Aufgaben für alle. Das ist eine Aufgabe für die Politik.
Viele Hochschulen klagen über den Wissensstand der Studienanfänger…
Die Rechtschreibung und die Vermittlung von Regeln sind an Schulen viele Jahre vernachlässigt worden. Ich wundere mich manchmal über die ein oder andere Hausarbeit, die ich auf den Tisch bekomme. Das ist zum Teil schon abenteuerlich, was etwa Groß- und Kleinschreibung angeht. Von Kommasetzung will ich gar nicht reden. Eine gute Rechtschreibung und grundlegende Mathematikkenntnisse sind aber Grundvoraussetzungen für ein Studium. Diese Defizite fallen den jungen Menschen beim Studium auf die Füße. Daher verstehe ich die Klage der Hochschulen. Aber ich beobachte auch einen gewissen Bewusstseinswandel, darauf wieder mehr Wert zu legen.
Ist es sinnvoll, dass so viele junge Menschen den höchsten Schulabschluss anstreben?
Es ist ja nicht so, dass alle Kinder am Ende ihrer Schullaufbahn das Abitur machen. Aber für viele Ausbildungsberufe wird heute das Abitur erwartet. Auf dem Arbeitsmarkt sind Akademikerinnen und Akademiker stark gefragt, es fehlen Ärzte und Ärztinnen, Lehrkräfte, Ingenieurinnen und Ingenieure. Das Abitur eröffnet viele Berufschancen und ermöglicht meist einen besseren Verdienst. Gute Bildung ist immer von Vorteil.
>>>> Zur Person:
Nele McElvany (46) ist seit 2009 Professorin für Empirische Bildungsforschung an der TU Dortmund. Zuvor war die Psychologin sieben Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen. Seit 2014 leitet sie als Geschäftsführende Direktorin das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund. Im Jahr 2020 wurde sie zur Prorektorin für Forschung der Uni gewählt.