Ruhrgebiet. Der Fall eines Elfjährigen, der in Wuppertal von der Schule flog, ist keine Ausnahme mehr. NRW-Experten nehmen auch Eltern in die Pflicht.

Wenn die Schülerin dann mal da ist, was selten vorkommt, gibt es meistens Stress. Neulich wurde wieder über sie gelästert, das hat sie wohl von Mitschülern erzählt bekommen. Für sie ein Anlass, ihre Freundinnen zusammenzutrommeln und die Mitschülerin vor dem Schulgelände zusammenzuschlagen. So erzählt es die Leiterin einer Gesamtschule im Ruhrgebiet. Erst kürzlich hat sie die Jugendliche von der Schule verwiesen. Bis so etwas passiert, „muss einiges passieren“, sagt die Leiterin, die zum Schutz ihrer Schülerinnen und Schüler lieber anonym bleiben möchte.

In letzter Zeit muss sie immer häufiger zu diesem letzten Mittel greifen. „Unsere Kinder und Jugendliche kämpfen immer mehr mit Ängsten“, sagt sie. Dadurch wird das Benehmen einzelner immer verrohter, „irgendwann ist das nicht mehr aufzufangen“. Leidtragend sei vor allem die Vielzahl derjenigen Schüler, die sich an die Regeln hielten und lernen wollten.

Großer Aufwand für die Lehrkräfte

Die Androhungen, entlassen zu werden sowie tatsächliche Entlassungen seien zwar immer noch Einzelfälle, betont die Leiterin, seit Corona sei die Zahl aber massiv gestiegen. Während eine Entlassung früher die Ausnahme war, wurden 2021 an der Gesamtschule über 60 Verweise angedroht, acht Jugendliche seien schließlich von der Schule geflogen. Auch in diesem Jahr wurden schon zwei entlassen, erzählt die Schulleiterin.

Der Vorfall an einer Wuppertaler Realschule, bei dem ein Elfjähriger der Schule verwiesen wurde, weil er seine Mitschüler beleidigt, geschlagen und ihnen mit dem Tode gedroht haben soll, ist daher keine Ausnahme. Die Eltern des Jungen hatten unlängst vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf per Eilantrag gegen die Entlassung geklagt – scheiterten aber.

Zahlen, wie viele Schulverweise es in NRW gibt und ob diese in letzter Zeit zugenommen haben, werden allerdings weder vom Ministerium noch von der Bezirksregierung Düsseldorf erfasst, heißt es auf Nachfrage.

Wer von der Schule fliegt, muss woanders aufgenommen werden

Was muss passieren, bis ein Schüler von der Schule fliegt? Im Schulgesetzt NRW heißt es, die Entlassung von der Schule setzt voraus, dass die Schülerin oder der Schüler durch „schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgaben der Schule oder die Rechte anderer ernstlich gefährdet oder verletzt hat“.

Laut NRW-Schulministerium entscheidet eine von der Lehrerkonferenz berufene Teilkonferenz über die Entlassung eines Schülers. Die setzt sich aus Schulleitung, Klassenlehrer oder Jahrgangsstufenleitung und drei weiteren Lehrkräften zusammen. Hinzu kommt ein Vertreter der Schulpflegschaft und des Schülerrats.

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Bevor die Konferenz den Beschluss fasst, bekommen der oder die Betroffene und die Eltern die Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Am Schluss prüft die Schulaufsichtsbehörde den Grund der Entlassung. Da der junge Mensch, um den es geht, in der Regel schulpflichtig ist, verweist die Behörde ihn an eine andere Schule, die ihn dann aufnehmen muss. Die Schulform bleibt dabei meist gleich.

Schulverweis: Hoher Aufwand für Schulleitung und Lehrer

Bevor ein Schüler entlassen wird, würden in der Regel vorher abgestuft andere Ordnungsmaßnahmen greifen, sagt Harald Willert, Vorsitzender der Schulleitungsvereinigung in NRW. Benimmt sich ein Schüler nach Einzel- und Elterngesprächen noch immer daneben bekommt er zuerst einen schriftlichen Verweis. Hilft das nicht, wird der Störenfried aus der Klasse genommen und beispielsweise in die Parallelklasse versetzt oder für maximal fünf Tage mit Unterrichtsmaterial nach Hause geschickt.

Konferenzen, in denen über etwaige Schulverweise entschieden wird, hätten an vielen Schulen zugenommen, sagt Willert, an einigen werden mehrfach wöchentlich Konferenzen für Ordnungsmaßnahmen angesetzt. „Der Aufwand, den viele Schulen dafür betreiben zeigt, mit welchen Problemen die Lehrerinnen und Lehrer derzeit in ihrem Alltag konfrontiert sind“, betont Willert.

Schulleiter fordern „stärkere rechtliche Unterstützung vom Land“

Da die möglichen Gerichtsverfahren nach einer Schulentlassung sehr langwierig sind, wägen Lehrkräfte und vor allem die Schulaufsicht einen Schulverweis gründlich ab – „und investieren, bis es so weit kommt, meist hunderte Stunden in pädagogische Maßnahmen, etwa durch Nacharbeiten, Elterngespräche und individuelle Betreuung“, sagt Willert.

Auch sei der Wechsel auf eine andere Schule nicht immer eine Garantie dafür, dass sich das Verhalten des Schülers bessert. Deshalb sei es oft keine Lösung, die Kinder und Jugendlichen immer wieder an andere Schulen zu verweisen. Willert: „Die Schulen sind dringend darauf angewiesen, dass die Eltern den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule mittragen.“

Auf politischer Ebene sei es angesichts der zunehmenden Gewalt notwendig, den Maßnahmen-Katalog zu überprüfen, der vor einer Entlassung greift. „Vom Land wünschen wir uns eine stärkere rechtliche Unterstützung für Lehrkräfte und Schulleiterinnen und Schulleiter.“

GEW fordert mehr Psychologen und Sozialarbeiter an NRW-Schulen

Die NRW-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert derweil multiprofessionelle Teams sowie mehr Sozialarbeiter und Schulpsychologen an den Schulen. Wegen des hohen Lehrkräftemangels fehle es vielen oft an Zeit, sich intensiv mit den zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen zu beschäftigen, sagt die GEW-Vorsitzende, Ayla Çelik. Zudem sei es wichtig, bereits in der Kita die Eltern flächendeckend mit einzubeziehen, um einem späteren Schulverweis vorzubeugen.

Nicht immer hätten Lehrkräfte die Chance, pädagogisch einzuwirken, sagt die Schulleiterin der Gesamtschule. Seit der Corona-Zeit würden Schüler immer öfter wegen mangelnder Leistung beispielsweise von der Realschule auf die Gesamtschule abgeschult. „Die Kinder und Jugendlichen kommen oft schon mit Problemen zu uns und müssen dann bei ihrer ersten gewalttätigen Aktion wieder entlassen werden“, so die Leiterin weiter.

NRW-Schulleiterin: „Es braucht eine Durchmischung“

Aber auch eigene Schüler müsse sie vermehrt entlassen, zu hoch sei die Gewaltbereitschaft geworden, zu niedrig die Frustrationstoleranz. Das habe laut der Schulleiterin nichts mit dem Migrationshintergrund, sondern mit den sozialen Verhältnissen der Schüler zu tun. Viele Eltern empfingen Sozialhilfe, im Viertel stehe kein Baum, und auf der Straße türme sich der Müll.

Deshalb müsse dringend an den gesellschaftlichen Strukturen gearbeitet werden, fordert sie, der soziale Wohnungsbau auch in gut situierten Stadtteilen vorangetrieben werden. „Es braucht eine Durchmischung, sonst wächst die nächste Generation wieder in prekäre Verhältnisse hinein, und es ändert sich nichts.“