Essen-Steele. Laut, kraftvoll und selbstbewusst treten Mädchen und Jungen beim Training in der Essener Kita auf. Warum der Selbstbehauptungskurs wichtig ist.

„Volle Kanone“ schlagen und treten je vier Kinder mit den Ellbogen gegen die dicke blaue Matte an der Wand. In der Kita Kindervilla haben sie gelernt, wie sie sich im Ernstfall vor Übergriffen schützen können. Selbstbehauptungs-Trainerin Birgit Scherbe, kurz Biggi, hat die 22 Mädchen und Jungen in einem altersangemessenen Präventionskurs fit gemacht.

„Solche Trainings sind als Gewaltschutz in Kitas und Grundschulen vorgeschrieben“, erklärt Sandra Weyers, seit August 2022 Leiterin der „Kindervilla“ neben dem Wasserturm am Laurentiusweg. Dort fand das Programm erstmals statt: sechs Termine à 60 Minuten pro Woche für die Fünf- bis Sechsjährigen. Den Kurs hätten sie bei allem Ernst des Themas mit Freude absolviert. Trainerin Biggi kennt coole Sprüche und trägt lange blaue Zöpfe. Wie eine moderne Pippi Langstrumpf gibt sich die erfahrene Trainerin und weiß, wie man Kinder begeistert.

Kinder lernen Flucht- und Befreiungstechniken an der Matte

Beim letzten Kurstermin brennen die Kids darauf, das Erlernte im großen Allzweckzimmer vorzuführen.„Power“, schmettert Birgit Scherbe mit kräftiger Stimme durch den Raum. Die Arme angespannt und die Fäuste geballt, steht die 56-Jährige im roten Sportdress vor den Kindern, schaut extra grimmig und ruft dann ein „Wuuut“, zur Einstimmung mit langem „u“. Nun geben die Kleinen richtig Gas bei den so genannten Flucht- und Befreiungstechniken an der Matte. Ulrich Leggereit, Kita-Fachbereichsleiter beim Diakoniewerk Essen, unter dessen Trägerschaft die „Kindervilla“ steht, ist mit der Präsentation zufrieden.

In der Kita
In der Kita "Kindervilla am Laurentiusweg" in Essen-Steele, üben die Mädchen und Jungen beim Selbstbehauptungstraining. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Laut, kraftvoll und selbstbewusst treten die Mädchen und Jungen auf. Im Ernstfall würde ihr Verhalten mögliche Angreifer vermutlich abhalten, etwa davon, von jemandem in ein Auto gezogen zu werden. Nach den körperlichen Abwehrübungen setzt die Trainerin die altersgerechte Präventionsarbeit mit einer schnellen Fragerunde auf dem Fußboden fort.

„Wohin trittst du, wenn dich jemand festhalten will?“, will sie von Lukas wissen. „Gegen die Schienbeine“, weiß er. Dieser Jemand könne ein Mann oder eine Frau, ein Junge oder ein Mädchen sein, Bekannte oder Unbekannte könnten übergriffig werden, erinnert Biggi. Und warnt, nur in der Familie und sonst nie zu jemandem ins Auto zu steigen. Laut schreien, weglaufen und den Eltern zuhause erzählen, was passiert ist, sei wichtig.

Nachwuchs wird auf mögliche Gefahren und Konflikte vorbereitet

Kontakt zur Trainerin

Birgit Scherbe („Biggi“) gibt Kurse an Kitas, Grundschulen, in Vereinen oder Kirchengemeinden.

Weitere Info auf Facebook unter „Selbstbehauptungs-Training Kids“. Einrichtungen, die Interesse haben, können die Trainerin anschreiben.

„Nein, das will ich nicht,“ zu rufen, müssten Kinder eben erst lernen, erläutert sie im anschließenden Gespräch. Und dass es wichtig sei, Unbehagen offen auszusprechen, bringe sie dem Nachwuchs bei. „Wenn man nicht geküsst oder berührt werden möchte, darf man das sagen.“

In Rollenspielen hat Birgit Scherbe den Nachwuchs auf mögliche Gefahren und Konflikte vorbereitet. „Selbstbehauptung benötigt Selbstbewusstsein, und das geht mit einer starken Körpersprache einher.“ Wer Stärke demonstriert, wird seltener Opfer. Biggi zeigt, wie es geht, posiert mit leicht gebeugten Knien sicher und aufrecht vor den Kindern, schaut sie fest an und hebt die Stimme. „Blickt dem Jemand in die Augen, seht nicht auf den Boden“, rät sie.

In der Kita
In der Kita "Kindervilla am Laurentiusweg" trainiert Birgit Scherbe, Biggi, mit den Kindern. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

In vielen praktischen Übungen mit Wiederholungen haben die Kids die Regeln verinnerlicht. „Seid ihr schwache Kinder?“ - „Nein“ schreien Emma, Lukas, Jasper, Finn und die anderen sofort im Chor und es klingt überzeugend. Im Ernstfall wäre jedes Kind auf sich gestellt. Aber weckt so ein Training bei manchen Kindern nicht erst die Angst? „Nein, sie werden sensibilisiert dafür, dass es Gefahren gibt. Und sie lernen ja auch, sich zu schützen und zu wehren. Das Wort ‚Täter‘ verwende ich nie, sondern sage immer nur ‚jemand‘ in den Rollenspielen“, erläutert Birgit Scherbe.

Mädchen und Jungen bekommen nach dem Kurs in der Essener Kita eine Urkunde

Seit mehr als 20 Jahren unterrichtet sie Selbstbehauptung an Kitas, Schulen in Essen, Bochum und ganz NRW. Auch wie man bei Streit und Mobbing selbstsicher reagiert, haben die Kinder geübt. Und gelernt, nicht gleich zuzuschlagen, wenn man beleidigt wird. „An Schulen herrscht leider immer mehr Gewalt. Da ist Prävention wichtig“, fügt Kita-Leiterin Weyers hinzu.

Wenn sie ab Spätsommer zur Schule gehen, wollen Emma, Hellen, Finn, Jasper, Lukas und die anderen immer sichere Wege wählen. Auch das wissen sie aus dem Selbstbehauptungskurs: Lieber die weitere Route nehmen, vorbei an belebten Straßen und Häusern, als einsame Schleichpfade. So kann man schnell Hilfe holen oder an einem Haus um Hilfe klingeln. „Am besten schellt ihr im Notfall bei allen Namen“, so der Tipp der Trainerin. Zum Abschluss rufen alle lauthals „Ich bin gut, ich bin Bombe“, bevor sie stolz die gelben Urkunden in Empfang nehmen.