Düsseldorf. Der Schulausschuss des Landtags hatte Experten zum Umgang mit Krisenlagen eingeladen - und bekam eine schonungslose Bestandsaufnahme.
Natürlich kennt Menno Baumann krasse Fälle wie den einer Lehrerin, die von einem Schüler übel zugerichtet wird, während ihre Kollegen drum herum stehen und unsicher sind, ob sie nun körperlich einschreiten dürfen oder nicht. Doch der Professor für Intensivpädagogik der Fachhochschule Düsseldorf warnt zugleich vor Fehlwahrnehmungen im Umgang mit dem Gewaltproblem an Schulen in Nordrhein-Westfalen.
„Die Gewalt durch Kinder und Jugendliche ist seit Mitte der 90er Jahre ein – wenn auch in Wellen – stetig sinkendes Problem“, sagt Baumann am Dienstag im Landtag. Er gehört zur Expertenriege, die den Schulausschuss beraten soll. Es geht um strengere Waffenregeln und bessere Krisenprävention. Aufgeschreckt wurde die Landespolitik vor einigen Monaten durch eine Polizeistatistik: In NRW wurden im vergangenen Jahr an Schulen 193 Attacken mit Messern oder Stichwaffen registriert – ein Anstieg um 47 Prozent im Vorjahresvergleich. Dunkelfeldstudien legen nahe, dass Jugendliche heute häufiger ein Messer mit sich führen als noch vor zehn Jahren.
Schule dritthäufigster Tatort für Gewalterfahrungen von Jugendlichen
Baumann sieht einerseits verzerrende Stimmungsbilder. Auch vor 20 Jahren habe man schon alles „nur noch schrecklich“ gefunden. Heute ist gefühlt jeden Tag Krise, auch weil sich Gewaltnachrichten aus Schulen bundesweit im Netz verbreiten und Algorithmen dafür sorgen, dass immer mehr solcher News produziert und verbreitet werden. „Wenn heute in Süddeutschland ein Schüler eine Lehrerin mit Säure angreift, steht es morgen in Flensburg in der Zeitung. Das war mal anders“, sagt Baumann. Bei Lichte betrachtet bleibe unstrittig, dass Deutschland etwa im Vergleich mit den USA oder Großbritannien in den vergangenen 30 Jahren „nicht alles verkehrt gemacht hat, was den Umgang mit Gewalt angeht“.
Allerdings will auch Baumann nicht beschönigen, dass die Schule der dritthäufigste Tatort ist, an dem Jugendliche Opfer von Gewalt werden. Nur in der eigenen Familie und in Clubs oder Discos lauert für sie statistisch eine größere Gefahr. Zudem wirken die personell ohnehin stark unterbesetzten NRW-Schulen oftmals mit Krisenlagen überfordert.
Auffällige Schüler sollen frühzeitig gescannt werden
Anna-Kathrin Großmann, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin bei der Stadt Düsseldorf, verfügt über viel Erfahrungen mit gewalttätigen Jugendlichen. Bei ihr laufen alle Krisenfälle an Schulen der Landeshauptstadt zusammen. Den Mitgliedern des Schulausschusses rät sie am Dienstag: „Dass Krisenteams an Schulen etabliert werden, halte ich für eine zentrale Präventionsmaßnahme.“ Wer sich früh mit auffälligen Schülern auseinandersetze, könne den Ernstfall verhindern. „Das heißt, schon vor Gewaltvorfällen in der Schule im Austausch mit dem Kollegium zu gucken, welche Schüler haben Potenzial, sich krisenhaft zu entwickeln“, sagt Großmann.
Oft fehle den Lehrkräften allerdings die Zeit, Krisenteams zu bilden oder regelmäßig zusammenzurufen. „Es braucht viel mehr Schulsozialarbeit an den Schulen. Die machen einen unglaublich wichtigen Job, den die Lehrkräfte nicht nebenbei leisten können“, findet Großmann.
Wenn man Andrea Salomon und Guido Schenk zuhört, bekommt man eine Ahnung davon, dass das Bedrohungsgefühl an Schulen größer ist, als es offizielle Statistiken abzubilden vermögen. Die beiden ausgebildeten Polizeibeamten schulen seit zehn Jahren mit ihrer Beratungsfirma „Selbst & Bewusst“ Lehrkräfte für den Krisenfall. „Die Gewaltbelastung wird durchschnittlich als sehr hoch wahrgenommen“, sagt Salomon. Je nach Schulform sei das Problem unterschiedlich stark ausgeprägt.
Von Pfefferspray bis Wurfstern - viele „unerwünschte Gegenstände“ in Schultaschen
Vielerorts hätten es Lehrer mit einem „ganzen Potpourri an unerwünschten Gegenständen“ zu tun. Pfefferspray, Feuerwerkskörper, Wurfsterne. Deo- oder Haarspray, die als Flammenwerfer benutzt werden. Butterflymesser, Schlagringe und vieles mehr.
Die Lehrkräfte seien sogar unsicher, in welchen Fällen sie Gegenstände wegnehmen dürfen, sagt Salomon. „Es existiert zwar sehr, sehr viel Schriftlage, aber es gibt den Wunsch, das Ganze mehr mit Leben zu füllen.“ Sie als Krisencoach plädiert für eine „Beispiel-Hausordnung“. Ihr Kollege Schenk findet, dass die Pädagogen zu oft alleingelassen würden mit Gewalt und Waffen auf dem Schulhof: „Lehrer haben einen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Sie haben aber nicht in erster Linie den Auftrag, eine sichere Schule zu gestalten.“
Das Schulministerium ist stolz auf den umfassenden Notfallordner „Hinsehen und Handeln“, der Konzepte für den Ernstfall an jeder Schule in NRW bereithält. Der sei wirklich „super“, sagt Schenk und fügt hinzu: „in der Theorie“. Gerade in der ersten Phase einer Tat, „wenn es chaotisch wird und viele Dinge auf einmal zusammenkommen“, könne man nicht in einem dicken Notfallordner mit mehreren Hundert Seiten die richtige Fundstelle suchen. Wenn es zu einem Amoklauf oder einer Messerattacke kommt, werden Schulleitung und Lehrer durch die mediale Beschleunigung binnen Minuten von Eltern, Mitschülern und Presse bestürmt. Dabei kühlen Kopf zu bewahren und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, braucht Übung. Dafür fehlen Zeit und Personal.