Essen. Jugendämter und Experten in NRW befürchten, dass im Corona-Lockdown Gewalt an Kindern seltener nach draußen dringt. Was Fachleute dagegen tun.

Wenn ein Schulkind den täglichen Videokonferenzen fernbleibt und tagelang nicht erreichbar ist, dann besucht Heike Ueßeler das Kind zu Hause. Nicht, um Hausaufgaben zu kontrollieren, sagt die Sozialarbeiterin, die in Ennepetal für vier Grundschulstandorte zuständig ist. Sondern um zu sehen, ob es ein Problem gebe. „Wir sind in Sorge um die Kinder, ob alles in Ordnung ist“ – besonders jetzt im Lockdown.

Damit ist Ueßeler nicht allein: In NRW treibt viele Lehrende, Sozialarbeiter, Psychologinnen und die Jugendämter die Sorge um, wie es Kindern und Jugendlichen im zweiten harten Lockdown zu Hause ergeht. Wenn ohnehin stark belastete Familien auf sich gestellt sind, Eltern überfordert und gestresst sind, könne es zu physischer oder psychischer Gewalt kommen, so die Warnung. Im Lockdown dringe diese aber seltener nach draußen. Denn gut etablierte Sicherheitsnetze fallen aus: Schulen sind geschlossen, Kitas laufen im Pandemiebetrieb, die Nachmittagsbetreuung beim kirchlichen Träger fehlt ebenso wie das Training im Sportverein.

„Nummer gegen Kummer“: Mehr Beratungen zum Thema „Gewalt und sexualisierte Gewalt“

Ersten Zahlen aus 2020 nach ist Gewalt bei Kindern und Jugendlichen offenbar verstärkt ein Thema. Die bundesweite „Nummer gegen Kummer“, ein kostenfreies Hilfetelefon, bei dem Seelsorger unter der 116111 Anrufe von Kindern und Jugendlichen entgegennehmen, meldet erheblich mehr Gespräche aus genau diesem Anlass.

Bundesweit 9244 Kinder und Jugendliche wollten im Zeitraum zwischen Januar und September 2020 über das Thema „Gewalt und sexualisierte Gewalt“ sprechen – und damit 14,8 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2019, berichtet Sprecherin Anna Zacharias. Die 1073 Online-Beratungen stellten sogar ein Plus von 17 Prozent im Vergleich zum Zeitraum 2019 dar. „Für uns sind das verhältnismäßig hohe Anstiege“, sagt Zacharias. Zahlen aus dem zweiten Lockdown gebe es noch nicht.

Kinderschutzbund: Großes Dunkelfeld zur Gewalt an Kindern

Für Margareta Müller vom Kinderschutzbund NRW sind die Daten nur Hinweise auf die tatsächliche Situation in den Familien. „Wir haben ein riesiges Dunkelfeld. Ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder taucht nicht in diesen Statistiken auf.“ Die Expertin sieht auch ein Wahrnehmungsproblem und kritisiert: „Beim ersten Lockdown wurden die Kinder zu Beginn vollkommen vergessen, erst nach ein paar Wochen richtete sich der Blick auch auf die Kinder.“

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Das soll in den Jugendämtern schon gemäß gesetzlicher Bestimmung nicht passieren: Sie haben die Aufgabe, das Kindswohl im Blick zu haben. Dennoch räumen Amtsleiter aus dem Ruhrgebiet Schwierigkeiten ein. „Wir müssen befürchten, einen Teil der Kinder nicht sehen zu können. Wir haben alles getan, um uns sehend zu machen, aber die Pandemie hat uns die Brille abgesetzt. Wir sind kurzsichtig geworden“, sagt die Dortmunder Schul- und Jugenddezernentin Daniela Schneckenburger (Die Grünen).

Jugendämter haben Probleme, Bedarf zu erkennen

Eine Befragung des Deutschen Jugendinstituts von Jugendämtern in Deutschland zu ihren Erfahrungen im ersten Lockdown bestätigte: Überhaupt Bedarfe zu erkennen werde unter den vielen Pandemie-Herausforderungen als am problematischsten eingeschätzt. So könne auch das Jugendamt Duisburg nicht ausschließen, dass die Dunkelziffer der sicht- und wahrnehmbaren Gewalt an Kindern während der Lockdown-Phasen und der Kontaktbeschränkungen höher sei – und nennt 1469 Kindesgefährdungsmeldungen für 2020 gegenüber 1966 Meldungen im Jahr 2019.

Eine warme Mahlzeit am Tag für Kinder in Essen

In Essen kommt die Unterstützung für Kinder auch aus der Gesellschaft. Auf Initiative einer App-Entwicklerin fand sich schon im ersten Lockdown ein breites Bündnis aus Behörden, sozialen Trägern, Wirtschaft und Ehrenamt zusammen.Ziel war es, Kindern aus Familien mit besonderem Bedarf ein Mittagessen nach Hause zu bringen – und so Einblicke zu erhalten. Auch jetzt rollen wieder 380 warme Corona-Hilfe pro Tag durch die Stadt. Tendenz steigend.

„Unter Gesichtspunkten des Kindeswohls halte ich eine länger anhaltende soziale Distanzierung, wie sie im Rahmen eines Lockdowns stattfindet, für sehr bedenklich“, sagt deshalb der Bielefelder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Klaus Riedel. Er warnt vor negativen Folgen für die Entwicklung der Kinder, wenn sie in gestörten Familienverhältnissen lebten und Sicherheitssysteme wie Sportvereine wegfielen. Für Riedel gehe es jetzt in erster Linie darum, sichere Bindungen und Empathiefähigkeit wiederherzustellen, zu stabilisieren und auszubauen. Er betont: „Das müsste noch vor der Diskussion über schnelles Internet und Hardwareausstattung stehen.“

Kommunikation verbessern, Vertrauen nutzen

Schulsozialarbeiterin Heike Ueßeler aus Ennepetal baut in der Corona-Pandemie auf Kommunikation und Vertrauen.
Schulsozialarbeiterin Heike Ueßeler aus Ennepetal baut in der Corona-Pandemie auf Kommunikation und Vertrauen. © WP | Privat

Besonders gefordert sieht der Psychotherapeut hier die Lehrenden, die durch die Schule eine Bindung zum Nachwuchs aufgebaut hätten und im aktuellen Distanzunterricht als „sicherheitsspendende Personen“ auftreten könnten. Zusammen mit Fachkolleginnen und -kollegen machte Riedel in einer Stellungnahme an das NRW-Familienministerium Vorschläge, um den Draht zwischen Lehrkräften und Nachwuchs weiter zu verbessern, etwa durch Ausbau der Kleingruppenarbeit oder der aktiven Kontaktaufnahme zu „abgehängten“ Schülerinnen und Schülern.

Die Kommunikation hält Heike Ueßeler aus Ennepetal ebenfalls für entscheidend. Die Sozialarbeiterin telefoniere mit 40 Familien regelmäßig. Dazu habe sie die Lehrenden sensibilisiert, sei immer wieder in den Videokonferenzen und vor Ort, um einen Blick auf die Kinder zu werfen und ansprechbar zu sein. Ueßeler sagt: „Ich habe die Hoffnung, dass die Kinder in Erinnerung behalten, dass sich jemand um sie kümmert.“