Essen. Die Kinderschutzambulanz im Elisabeth-Krankenhaus Essen hat einen Blick für Misshandlung. Das Team vermittelt Hilfe und ruft manchmal die Polizei

Sie sind Ärzte und brauchen mitunter einen detektivischen Blick: Wie kann man sicher sagen, ob hinter dem Beinbruch des Dreijährigen ein Unfall steht – oder ein familiäres Drama? Im Elisabeth-Krankenhaus kümmert sich seit Anfang des Jahres eine Kinderschutzambulanz um das Thema. Geleitet von den beiden erfahrenen Kinderchirurgen Kristina Gärtner und Christopher Lindow, die sich mit der medizinischen Diagnose allein nicht begnügen: „Wir sehen mehr.“

Da wird etwa ein Kind mit einer schwer erklärbaren Verbrühung eingeliefert, da passt ein Knochenbruch nicht zu der Geschichte, die die Eltern erzählen. „Wir sprechen sie dann darauf an und manchmal kommen sie ins Plaudern, geben dabei Anhaltspunkte, dass der Vorfall doch anders verlaufen ist“, sagt Christopher Lindow. In anderen Fällen könne das Gespräch die Eltern auch entlasten, weil sich herausstelle, dass jemand aus der Verwandtschaft ihrem Kind etwas angetan habe.

Die Ärzte sehen sich als Anwälte für das Kind

Einem solchen Gespräch gehe neben einer sorgfältigen Diagnostik, eine interne Beratung mit den Kollegen voraus. Bei Kindesmisshandlung gibt es eine hohe Dunkelziffer: Viele Fälle kann nur erkennen, wer für Verdachtsmomente sensibilisiert ist. Wird ein Säugling mit einem Krampfanfall eingeliefert und eine Hirnblutung festgestellt, sei es angezeigt, dass sich eine Augenärztin das Kind anschaue, sagt Lindow: „Sie findet möglicherweise im Auge Hinweise auf ein Schütteltrauma.“

Dabei sehen sich die Ärzte nicht als Ermittler gegen die Eltern, sondern als Anwälte für das Kind. „Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir unsere kleinen Patienten ruhigen Gewissens nach Hause entlassen können“, betont Kristina Gärtner. Nicht immer könne man das allein anhand von harten Fakten entscheiden, oft gehe es auch um die Beobachtung, wie Mutter und Vater mit ihrem Kind interagieren: Gibt es da Härte – oder Hilflosigkeit? Weiß die minderjährige Mutter nicht, wie sie ihr Baby versorgen soll? Dann brauche sie vielleicht nur Anleitung, etwa durch das Programm „Sicherer Start“ oder eine ambulante Kraft des Jugendamtes. „Wir erkennen den Hilfebedarf“, betont Kristina Gärtner. „Und wir arbeiten familien-erhaltend.“ Wo das irgend möglich ist.

Manchmal aber müsse ein Kind aus seiner Familie gerettet werden. Gerade in diesen Fällen sei es wichtig, dass man aufwendig dokumentierte, was an dem Beinbruch so ungewöhnlich sei: für das Jugendamt und später für das Familiengericht, wo der Befund zum Beweismittel werden könne. Die Ärzte richten sich dabei nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin e.V.

„Das Gesundheitssystem zahlt für die Oberschenkelfraktur – aber nicht für die Kinderschutzarbeit drumherum“

Kinderschutz sei kein neues Thema am Elisabeth-Krankenhaus, schon seit 2006 gebe es eine Kinderschutz-Gruppe, in der Psychologen, Kinderärzte, Kinderchirurgen, Pflegekräfte und Sozialdienst zusammenarbeiten. Nun wolle man die Arbeit weiter professionalisieren, sagt Kristina Gärtner: Um die Fälle sicher erkennen und nach festen Standards zu bearbeiten.

Eltern, Lehrer, Erzieher, niedergelassene Kinderärzte sowie die Kollegen aus anderen Abteilungen des Krankenhauses können sich mit Fragen und Zweifelsfällen an die Profi-Kinderschützer wenden, die wiederum mit anderen Stellen vernetzt sind: vom Jugendpsychologischen Institut der Stadt bis zum Sozialpädiatrischen Dienst im eigenen Haus. „Schwierig ist nur, dass unser Gesundheitssystem für die Oberschenkelfraktur zahlt – aber nicht für die Kinderschutzarbeit drumherum“, bedauert Gärtner. Das fünfköpfige Team der Kinderschutzambulanz werde weitgehend durch Fördermittel finanziert.

Oft vermitteln sie Hilfe für die Familien – manchmal rufen sie die Polizei

Anders als viele andere Kliniken könne das Elisabeth-Krankenhaus inzwischen Kinderschutzfälle auch zahlenmäßig besser ausweisen: Allein im zweiten Halbjahr 2020 hätten sie 100 junge Patienten gesehen, „bei denen wir den allgemeinen Zustand verbessern wollen“, wie Gärtner es formuliert. Sprich: Nach der Akut-Hilfe stiele man Unterstützung für die Familien ein. „Wir haben Jugendliche, die nach einem Drogenmissbrauch mit Herzversagen hier eingeliefert werden. Denen schicken wir später unsere Psychologin, damit sie einen Termin mit ihnen vereinbart“, sagt Lindow. Die Eltern drogenabhängiger Kinder erlebe man häufig dankbar: „Die Familien haben oft schon eine lange Reise hinter sich.“

Andere Eltern werden laut, pöbeln, provozieren Polizeieinsätze: „Die sind aggressiv, drohen mit dem Anwalt. Dass einer wirklich reumütig ist, habe ich noch nicht erlebt.“ Dass auf das vehemente Bestreiten ein zögerndes Eingestehen folge, gebe es dagegen schon, sagt Kristina Gärtner. Sie empfinde keine Wut auf solche Eltern, zumal viele als Kinder selbst Gewalt erlebt hätten. „Aber ich lasse mich auch nicht veräppeln.“ Etwa wenn der neue Lebenspartner der Mutter das Kind brutal zusammengeschlagen hat, und sie in Panik mit dem schwer verletzten Kind doch noch ins Krankenhaus fährt, eine unglaubwürdige Geschichte erzählt. In solchen Fällen gibt es kein behutsames Gespräch. „Da holen wir die Polizei.“

Im Lockdown gab es viele Fälle schwerer Kindesmisshandlung

Als im Frühjahr 2020 Kitas und Schulen geschlossen waren, seien viele Kinder unsichtbar geworden. So wie der Neunjährige, der wegen einer anderen Sache ins Krankenhaus kam und dort schon eine Woche lang lag, bevor ein Arzt den Nasenbeinbruch entdeckte – bis dahin unter der Atemschutzmaske verborgen. So schlecht verheilt war die Fraktur, dass der Junge operiert werden musste. Kristina Gärtner ist zweifache Mutter, ihr Kollege Christopher Lindow dreifacher Vater: Unvorstellbar, dass sich eins ihrer Kinder die Nase bricht, und sie das nicht behandeln lassen.

Im zweiten Halbjahr des vergangenen Jahres hätten sie viele Lockdown-Opfer gesehen. Kinder und Säuglinge in schlechtem Zustand, „und Fälle, die um ein Vielfaches schlimmer waren als das, was uns sonst unterkommt.“ Wie der misshandelte Fünfjährige, der schwere Schnittverletzungen im Mundraum hatte, zugefügt mit einer Schere. Verletzungen, die heilen – und oft lebenslange Wunden zurücklassen.