Essen. WAZ-Chefredakteur Tyrock sprach mit dem NRW-Regierungschef über Fehlerbewertungen, die Zeit nach dem Lockdown und eine mögliche Impfpflicht.

Das erste live bei WAZ.de übertragene Interview mit dem NRW-Ministerpräsident Armin Laschet mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock fand in schwierigem Kontext statt: Die Politiker in Bund und den Ländern versuchen gerade, die Wirkungen der Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Situation hatte sich in den vergangenen Tagen noch einmal krisenhaft zugespitzt. Die Zahl der Todesopfer hat mittlerweile mit 1000 innerhalb von 24 Stunden einen neuen traurigen Rekord erreicht. Nun gehen wir mindestens bis zum 10. Januar in einen Lockdown.

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Seit Mittwoch ist das öffentliche Leben in ganz Deutschland heruntergefahren: Geschäfte sind geschlossen, Silvester quasi abgesagt, Kontakte eingeschränkt, ebenso der Präsenzunterricht in den Schulen. Armin Laschet hatte erst nach längerem Zögern darauf gedrängt, den Schritt in den harten Lockdown so schnell wie möglich umsetzen.

Die Zuschauer konnten im Live-Video-Interview Fragen stellen - und genau um dieses Thema drehten sich viele:

Herr Laschet, zunächst eine persönliche Frage: Sie erfahren derzeit sehr viel Kritik, mitunter auch Hass und Hetze in den sogenannten sozialen Medien. Was macht das mit dem Menschen Armin Laschet?

Natürlich erhalte ich derzeit viele Zuschriften. Die Menschen sind sehr bewegt, es gibt viele persönliche Schicksale, viele Einzelfälle, die geschildert werden, mitunter auch aggressiv, häufig auch widersprüchlich. Die einen sagen: Warum schließt Ihr die Schulen? Wir wollen ein gutes Betreuungsangebot. Die anderen fragen: Wann schließt Ihr endlich die Schulen? Diese unterschiedlichen Meinungen gibt es in fast allen Lebensbereichen. Es gibt zudem den Diskurs im Landtag, die politische Debatte – und am Ende geht es immer darum, richtig zu entscheiden, damit die hohen Infektionszahlen nach unten gehen. Man darf sich nicht beirren lassen – aber belastend ist die Situation natürlich.

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    Das denke ich nicht. Wir, die Länder und der Bund, haben Ende Oktober gemeinsam beschlossen, im November in den Teil-Lockdown zu gehen, um die exponentielle Wachstumskurve zu brechen. Das ist gelungen, aber es ist nicht gelungen, die Infektionen signifikant nach unten zu bringen. Wir haben gesehen: Die Zahlen gingen in Nordrhein-Westfalen Stück für Stück jeden Tag nach unten. Doch seit der letzten Woche gab es plötzlich wieder eine starke Steigung, und exakt darauf mussten wir nun reagieren. Denn es war ja zu erwarten, dass es zu Weihnachten viele, viele Millionen Begegnungen geben würde. Und wenn dann nochmal eine Steigerung kommt, droht Deutschland eine gesundheitliche Notlage. Und deswegen haben wir – die Bundeskanzlerin und die Länder – in einer sehr kurzfristigen Konferenz am Sonntag den schnellstmöglichen Lockdown beschlossen.

    Hätten die Ministerpräsidenten früher auf Kanzlerin Merkel hören sollen, die schon im Oktober sagte: Es reicht nicht, was wir hier machen?

    Es hat in unseren Beratungen im Oktober niemand einen Lockdown gefordert, wie wir ihn jetzt beschlossen haben. Es ging um Einzelfragen, speziell rund um Schule. Und da gab es bei allen Ländern die Grundauffassung, dass wir das Recht auf Bildung unbedingt aufrechterhalten müssen.

    Am 8. Dezember gab es die Ad-hoc-Stellungnahme von Wissenschaftlern der Leopoldina, die einen Lockdown ab dem 24.12. gefordert haben. Aber dann haben wir anhand der rasant steigenden Zahlen gesehen: Wir müssen schneller handeln.

    Am 1. Advent hatten Sie gesagt, ein kompletter Lockdown komme in einem großen Land wie Deutschland nicht in Frage. Am 3. Advent sagten Sie dann, man brauche nicht nur Ruhe, sondern Stillstand. Was hat zu diesem Umschwenken geführt, haben Sie die Entwicklung unterschätzt?

    Nein, wir haben nichts unterschätzt: Bereits der Teil-Lockdown war ja bei vielen Menschen auf Unverständnis gestoßen. Die Zahlen waren rückläufig. Ein kompletter Lockdown wäre da nur schwer vermittelbar gewesen. Aber durch die steigenden Zahlen, die kritische Lage auf den Intensivstationen und den dringenden Appell der Wissenschaftler hat sich die Situation verändert. Das geht ja im Übrigen unseren Nachbarländern derzeit ebenso.

    Sie hatten lange Zeit das Image des „Lockerers“. War das kommunikativ ein Fehler?

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    Das Image haben ja andere von außen beschrieben. Mir ging es immer um Verhältnismäßigkeit: Wenn die Infektionszahlen sinken, müssen Grundrechtseingriffe zurückgenommen werden. Das ist ein Verfassungsgebot. Deswegen haben ja auch viele Gerichte Corona-Maßnahmen wieder aufgehoben. Und diese Strategie war auch im Frühjahr nach Ostern richtig: Damals sind die Infektionszahlen um 70 Prozent gesunken. Wir hatten zum Teil einstellige Inzidenzwerte, da kann man kein ganzes Land schließen. Später, nach den Ferien, haben beispielsweise Familienbegegnungen von Menschen aus der Türkei und dem Balkan die Inzidenzen wieder nach oben gebracht. Darauf mussten wir reagieren, so wie auf andere Entwicklungen. Es gab aber in dieser Phase keinerlei Rechtsgrundlage, das ganze Land stillzulegen.

    Wie soll es nach dem 10. Januar weitergehen, sollten die Zahlen nicht wie gewollt sinken?

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    Wir haben in diesem Jahr gelernt: Niemand kann prophezeien, was wie wirkt und mit welcher Infektionslage wir es im Januar, Februar, März oder April zu tun haben. Das kann niemand seriös sagen. Wir können uns nur darauf vorbereiten, zum Beispiel, indem wir die Gesundheitsämter entlasten. Der Wert der 50er-Inzidenz ist ja maßgeblich, wenn man Infektionsketten nachverfolgen will. Ist der Wert höher, kann man sie nicht mehr nachverfolgen, und die Pandemie gerät außer Kontrolle. Also rüsten wir nun die Gesundheitsämter digital auf, um sie leistungsfähiger zu machen...

    … man muss aber auch in anderen Bereichen gegensteuern.

    Ja, das gilt auch für die Schulen: Wir unterstützen die Schulträger gerade dabei, alle Schüler mit digitalen Endgeräten auszustatten, um den Unterricht flexibler zu machen. Und wir sind parallel dabei, die Impfstoffverteilung vorzubereiten. Wir rechnen damit, dass noch in diesem Jahr Impfstoff in Nordrhein-Westfalen ankommt und die Impfungen entlang der Prioritätenliste der Schutzbedürftigen sehr schnell starten. Es wird zum Beispiel mobile Teams geben, die in die Alten- und Pflegeheime fahren, um dort zu impfen. Wenn das geschehen ist, dann können wir für den Januar, Februar und März klarer sehen, weil immer mehr Menschen eine Immunität entwickeln.

    NRW-Schulministerin Gebauer hat sich lange dagegen gewehrt, der Empfehlung der Leopoldina-Wissenschaftler nach Aufhebung der Präsenzpflicht an Schulen zu folgen. An jenem Mittwoch lehnte sie kategorisch ab, am Freitag war es dann doch soweit. Verstehen Sie Eltern, die diesen Kurs nicht nachvollziehen können, die in vielen Bereichen von einem Schul-Chaos sprechen?

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    Ich will um Verständnis bitten für diejenigen, die entscheiden. Die Meinung aller 16 Schulminister, egal von welcher Partei, ist: Das Recht der Kinder auf Bildung ist wichtig. Und der heimische Küchentisch in einer kleinen Wohnung mit zwei, drei Kindern ist nicht der optimale Lernort. Natürlich gibt es auch viele Familien mit mehr Platz zu Hause, in denen die Eltern helfen können, damit der Hybrid-Unterricht gelingt. Aber die soziale Frage, die mit Bildung verbunden ist, bedeutet, dass es für möglichst alle Kinder ähnliche Bedingungen gibt. Und deswegen haben wir dafür gekämpft, den Präsenzunterricht solange wie möglich aufrecht zu erhalten. Am 8. Dezember haben die Wissenschaftler der Leopoldina dann empfohlen, die Präsenzpflicht aufzuheben. Und das haben wir prompt am Freitag umgesetzt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beschlusses ist den Umständen geschuldet. Es sind eben keine normalen Zeiten. Normalerweise tagen auch die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten nicht sonntagmorgens. Man muss aber eben in diesen Zeiten mitunter sehr schnell entscheiden.

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    Natürlich ist das Vertrauen da. Yvonne Gebauer hat sich übrigens eng mit den anderen Kultusministern abgestimmt –Kritik gibt es nun in allen Ländern. Mir ist aber dieser bundesweite Konsens auch über Parteigrenzen hinweg sehr wichtig. Eine der leidenschaftlichsten Stimmen für den Präsenzunterricht und die soziale Frage von Bildung ist die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig, gleichzeitig die Vorsitzende der Kultusminister-Konferenz. Und in Nordrhein-Westfalen ist diese Stimme Yvonne Gebauer, die das Gleiche vorträgt, wie ihre rheinland-pfälzische Kollegin von der SPD. Die parteipolitisch motivierte Forderung nach einem Rücktritt gegen Frau Gebauer halte ich daher für unangemessen.

    In welcher Form wird der Schulbetrieb am 11. Januar wieder starten?

    Das ist abhängig von den Infektionszahlen. Möglicherweise muss man unterscheiden zwischen Kreisen, die besonders belastet sind und solchen, die nicht belastet sind. Es gibt noch nicht den Lösungsplan. Wir müssen deshalb abwarten, wie der Lockdown wirkt, welche Situation wir haben.

    Sehr gefährlich ist die Pandemie für alte Menschen. Seit März ist es nicht gelungen, die Masseninfektionen in Alten- und Pflegeheimen zu verhindern. Was wollen Sie jetzt tun?

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    Wir wollen die Verwundbarsten in unserer Gesellschaft, die Alten und Kranken, in keinem Fall wieder isolieren, wie im Frühjahr. Das ist kein Weg, den wir erneut beschreiten wollen. Wir setzen einerseits auf den Einsatz von Schnelltests, die inzwischen zur Verfügung stehen, und die es im Frühjahr noch nicht gab. Ein zweiter Teil der Schutzmaßnahmen sind die FFP2-Masken. Zudem sind bestimmte Vorsichtsmaßnahmen für Besucher, wie etwa zahlenmäßige Beschränkungen, und der Schutz der Beschäftigten im Heim sehr wichtig.

    Diese Beschäftigten im Pflegedienst waren im Frühjahr noch Corona-Helden, die Beifall bekamen. Gab es für die Beschäftigten aus Ihrer Sicht seitdem genug substanzielle Verbesserungen, zum Beispiel bei der Bezahlung oder bei der personellen Ausstattung?

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    Der Bedarf ist riesig – seit Jahren. Es ist aber genauso klar, dass man nicht von März bis Dezember Pfleger ausbilden kann. Es werden nicht mit einem Schlag einfach mehr Pfleger da sein. Was man machen kann, ist, die Arbeit besser anzuerkennen, die Pfleger von anderen Belastungen zu befreien. Die Löhne sind zum Glück durch die letzte Tarifrunde substantiell erhöht worden. Aber das reicht noch nicht aus. Viele, die uns jetzt tragen, auf die wir uns verlassen können – Altenpfleger, Krankenpfleger, Supermarkt-Mitarbeiter – werden schlecht bezahlt. Das müssen wir bald ändern, das muss abseits der tariflichen Festlegungen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, da Druck zu erzeugen für Verbesserungen.

    Stichwort Impfen: Wir warten weiterhin auf die Zulassung des in Deutschland entwickelten Impfstoffs. In den USA, Kanada und Großbritannien haben die Impfungen bereits begonnen. Gehen die Behörden dort fahrlässiger vor als die Europäer?

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    Die Behörden müssen die Prüfungen nach den medizinischen und wissenschaftlichen Kriterien in aller Sorgsamkeit durchführen. Die Politik darf nicht Einfluss nehmen auf diesen Prozess. Und wir in Deutschland und in der EU haben gesagt: Lieber ein paar Tage länger auf den gründlich geprüften Impfstoff warten – und dann können wir auch für Millionen Bundesbürger mit bestem Gewissen versichern, dass dieser Impfstoff sicher ist. Ich finde diese Gründlichkeit bei einem so sensiblen Thema wichtig. Wäre es anders und es käme zu Komplikationen, wäre das gesamte Vertrauen in den Impfstoff erschüttert.

    Wäre unter Umständen auch eine Impfpflicht denkbar?

    Nein, wir werden keine Impfpflicht einführen. Es gibt viele, die ihre eigenen Zweifel haben, und wir haben Millionen, die dringend auf einen Impfstoff warten. Und da die Mengen begrenzt sind, sollten wir erst einmal dafür sorgen, dass alle, die den Impfstoff wollen, ihn auch bekommen. Und damit sind wir das gesamte nächste Jahr beschäftigt.

    Der erneute Lockdown trifft die deutsche Wirtschaft extrem hart. Sie haben früh darauf verwiesen, dass es Deutschland nicht über Monate durchhalten kann, ganze Wirtschaftszweige mit Steuergeld aufzufangen? Wie wird es jetzt weitergehen?

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    Es wird weiterhin Hilfen geben. Wir haben riesige Summen für Überbrückungshilfen bereitgestellt. Aber es ist auch klar, dass man beispielsweise nicht für den gesamten Einzelhandel über mehrere Monate die gesamten Ausfälle wird bezahlen können. Es wird Schäden geben für alle. Es ist leider so: Der Staat kann nicht zu 100 Prozent alle Verluste erstatten.

    Wie groß ist die Gefahr von Pleitewellen und Massenarbeitslosigkeit im kommenden Jahr?

    Die ist nicht klein: Wir haben die Kurzarbeit, die Ende kommenden Jahres ausläuft, wir haben gigantische Konjunkturprogramme, und wir haben die Insolvenzordnung so verändert, dass bei kurzfristigen Liquiditätsschwierigkeiten nicht sofort die Pleite droht. Das stabilisiert viele Unternehmen. Die Zahlen für das dritte Quartal 2020 waren in Nordrhein-Westfalen erstaunlich in Ordnung. Wir wissen aber noch nicht, wie nun der Lockdown wirkt.

    Eine Frage, die uns sehr viele WAZ-Leser gestellt haben: Wird der Amateurfußball ab dem 10. Januar wieder aufgenommen?

    Bei 75 Prozent aller Infektionen wissen wir leider nicht, auf welchem Wege sie übertragen wurden. Und dass bei einem Sport mit Körperkontakt Infektionen durchaus möglich sind, ist ja nicht von der Hand zu weisen. Bei einer guten Fußballmannschaft gibt es sehr häufig Körperkontakt. Es gibt auch welche, bei denen das nicht der Fall ist. Die stehen in der Tabelle aber eher hinten. Im Ernst: Man muss vorsichtig sein.

    Das heißt: Weiterhin kein Mannschaftssport nach dem 10. Januar?

    Das kann man so nicht sagen. Es gibt Wissenschaftler, die prognostizieren, dass - wenn alles gut läuft - durch den jetzigen Lockdown die Infektionszahlen halbiert werden könnten. Und wenn das so wäre, könnte man auch über Fragen wie diese neu nachdenken. Klar ist: Die Öffnung der Schulen hat für uns absolute Priorität – aber der Vereinssport ist ja für Kinder und Jugendliche ebenfalls extrem wichtig. (ftg)