Berlin/Brüssel. Die EU-Arzneimittelbehörde zieht nach massivem Druck den Zulassungstermin für den Corona-Impfstoff vor. Warum hat es so lange gedauert?

Behutsam setzt Krankenschwester Lillian Wirpsza die Nadel an, zwei US-Fahnen rahmen die Aktion. Eine Impfung als nationaler Akt. Das Foto aus Washington geht um die Welt wie eine Woche vorher das Bild der 90-jährigen Margaret Keenan, die als erste Britin gegen Corona geimpft wurde. Bilder haben mitunter eine große Wirkungsmacht.

Den Europäern führen sie einen Rückstand vor Augen und eine Botschaft wie ein umgewandelter Ikea-Slogan: Prüfst du noch oder impfst du schon? Am Dienstag stellt Europas Arzneimittel-Agentur EMA die Zulassung des Impfstoffs des Mainzer Unternehmens Biontech und der US-Firma Pfizer zum 21. Dezember in Aussicht. Acht Tage früher als geplant und rechtzeitig zu Weihnachten. Die Leute von EMA in Amsterdam mussten „liefern“. Der öffentliche Druck war zuletzt immens.

Corona-Impfstoff: Der EU geht es um Qualität, nicht Schnelligkeit

„Das ist eine gute Nachricht für die ganze Europäische Union“, frohlockt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Er gibt sich wie ein Mann, der unverhofft beschert wurde. „Ich habe nur wiedergegeben, was ich von den Medien erfahren habe“, beteuert er. In Wahrheit klangen seine Äußerungen seit Tagen wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Sein Ziel war, dass „es noch vor Weihnachten eine Zulassung gibt und dass wir dann auch noch in diesem Jahr beginnen können zu impfen, auch hier in Deutschland“. Spahn war Teil einer Druckkulisse.

Nicht zufällig waren die Bundesländer gebeten worden, sogar schon zum 15. Dezember impfbereit zu sein. Nach der Zulassung muss das Paul-Ehrlich-Institut die ersten Lieferungen freigeben, eine Formalität. Innerhalb von zwei bis vier Tagen kann es mit dem Impfen losgehen – Punktlandung zu Heiligabend.

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Impfung gegen Corona: Niemand will Versuchskaninchen sein

Die widersprüchlichen Erwartungen kennt Spahn zu gut. Journalisten erzählt er von Pflegern, die es kaum erwarten können, bis sie an der Reihe seien, aber auch von anderen, die ihm mailten, sie wollten „keine Versuchskaninchen“ sein. Das passt zu einer Umfrage für das Robert-Koch-Institut, wonach 70 Prozent der Deutschen sich für die Nebenwirkungen interessieren.

Es gibt auch offene Fragen. Ungeklärt ist, ob Geimpfte Covid-19 an andere weitergeben können. Die „sterilisierende Immunität“ werde noch erforscht, stellt die Vorsitzende der Ethikkommission, Alena Buyx, klar.

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Spahn gehört einerseits zu den Dränglern. Andererseits ist ihm Impfpatriotismus nicht geheuer. Er wundere sich über manche Tonlage, die dem europäischen Geist widerspreche. Einige wollten „brutal“ die nationale Karte ziehen. „Das Wir ist stärker als das Ich“, sagt er.

Spahn: Vertrauen in den Impfstoff ist das Wichtigste

Wenige Wochen trennen die Zulassungen in Großbritannien und der EU. Auf der Insel wird der Stoff per Notfallzulassung freigegeben, in der EU als Ergebnis eines ordentlichen Verfahrens. Die Staats- und Regierungschefs wussten, dass es länger dauern würde. Sie nahmen es in Kauf: „Nichts ist wichtiger beim Impfen als Vertrauen in den Impfstoff“, so Spahn. „Wir tragen eine enorme Verantwortung“, stellt EMA-Chefin Emer ­Cooke fest. „Es geht nicht um Tempo, sondern um Sicherheit und hohe Qualität“, beteuert sie. Ein Trugschluss. Zuletzt ging es doch darum: ums Tempo.

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Peter Liese hat dafür kein Verständnis. „Es ist gerechtfertigt, sich zwei oder drei Wochen länger Zeit zu lassen, um ein höheres Maß an Sicherheit zu bekommen“, sagt der Arzt und CDU-Europaabgeordnete. „Biontech legt der EMA umfassendere Daten vor als etwa den britischen Behörden – sie sind feinkörniger, und sie werden tiefer analysiert, deshalb hat Biontech den Antrag bei der EMA auch später gestellt als bei der britischen Behörde.“ Die EU-Zulassung als „bedingte Marktzulassung“ sehe auch eine Haftung der Unternehmen vor, was bei der Notfallzulassung mit weniger hohen Anforderungen nicht der Fall sei.

Bis September 2021 könnte Herdenimmunität durch Impfung erreicht sein

Spahn geht davon aus, dass bis September 2021 rund 60 Prozent der Bundesbürger geimpft sein könnten. Der Zeitkorridor kaschiert eine Kalamität: Im ersten Quartal stehen von Biontech-Pfizer vier Millionen und vom US-Unternehmen Moderna 1,5 Millionen Impfdosen zur Verfügung. Das ist nicht viel, zumal jeder zweimal geimpft werden muss.

Auf elf bis 13 Millionen kommt die Bundesrepublik im ersten Quartal nur, wenn das Vakzin vom britisch-schwedischen Hersteller Astrazeneca zugelassen ist, gegenüber Biontech ein Nachzügler. Liese stellt klar: Schnellere Zulassungen wie in den USA und Großbritannien führten nicht dazu, „dass wir auch nur eine Impfstoffdosis weniger bekommen“.

Impfstoff: Zulassungen in anderen Ländern benachteiligen Deutschland nicht

Das Beispiel Biontech belegt die Aussage: 40 Millionen Impfdosen haben die Briten bestellt, Deutschland erhält aber allein aus der gemeinsamen EU-Bestellung knapp 60 Millionen (entsprechend dem Verteilungsschlüssel nach Bevölkerungszahl).

Nach früheren Angaben des Gesundheitsministeriums hat sich Berlin weitere Chargen des Vakzins beim deutschen Hersteller direkt gesichert, sodass man von rund hundert Millionen Impfdosen von Biontech-Pfizer ausgeht. Allein: Der Großteil wird nach und nach ausgeliefert – was für die Briten genauso gilt wie für die Deutschen.

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