Essen/Gladbeck. Rund 400 Millionen Bürger sind zur Wahl des Europaparlaments aufgerufen. Rund 1000 Kandidaten stehen allein in Deutschland auf der Liste des Bundeswahlleiters. Und seit die Drei-Prozent-Hürde aufgehoben ist, können sich auch die ganz kleinen Parteien Hoffnungen auf Sitze im Brüsseler Parlament machen.

Sie werden bei Hochrechnungen und Endergebnissen stets hinter dem hässlichen Wort „Andere“ versteckt: die poli­tischen Leichtgewichte, die kleinen Parteien, die auf dem Wahl­zettel irgendwo unten stehen. Bei der Europawahl 2014 ent­wickeln diese Miniparteien in Deutschland erstmals Muskel­masse. Weil das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde für die Wahl des EU-Parlaments für unzulässig erklärt hat, dürfen sich einige der „Anderen“ tatsächlich Hoffnungen machen, Abgeordnete nach Straßburg zu schicken.

Endlich lohnt sich der Wahlkampf

Europawahl ohne Prozenthürde – 2009 hätten davon die Freien Wähler mit zwei Sitzen, ­Republikaner, Tierschutzpartei, Familienpartei, Piraten, Rentnerpartei und ÖDP mit je einem Sitz profitiert. Diesmal ist es keine Theorie, diesmal geht es um einen Teil der parlamentarischen Macht. Und das wirkt wie ein Aufputschmittel.

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„Wir haben erstmals die Chance, in ein wertiges Parlament einzuziehen“, sagt Helmut Geuking, NRW-Vorsitzender der Familienpartei. Sein Landesverband ist mit rund 100 Mitgliedern gerade so groß wie ein SPD-Ortsverein. Sei’s drum, bei dieser Wahl ist alles anders. „Wenn wir einen Sitz gewinnen, können wir uns freuen. Dafür brauchen wir etwa 0,6 Prozent“, rechnet Geu­king vor. Luft nach oben ist da ­immer noch, vermutet er.

In dem Revier der Ein-Prozent-Parteien tummeln sich auch Tierschützer. Stefan Bernhard Eck, Bundesvorsitzender der Partei „Mensch, Umwelt, Tierschutz“ hat einen Marathon-Wahlkampf an Rhein und Ruhr hinter sich. Die Plakate des Saarländers prangen in weiten Teilen der Essener City, aber auch in Duisburg oder Bochum, Düsseldorf und Köln.

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„NRW ist das wichtigste Bundesland. Hier werden Wahlen gewonnen oder verloren“, philosophiert Eck. Er und seine Mitstreiterin Sandra Gabriel aus Essen wittern die Chance ihres politischen ­Le­bens. Eck: „Das Argument, dass ei­ne Stimme für die Kleinen eine verlorene Stimme sein soll, zieht ja jetzt gar nicht mehr.“ Zwei Sitze im Europaparlament, sagt Eck, seien für die Partei und ihre zumeist vegetarisch oder gar vegan lebenden Mitglieder „realistisch“. Und kühn schwingt er sich zu einer Vision auf, die mindestens so weit entfernt scheint wie die Vereinigten Staaten von Europa: eine eigene Tierschützer-Fraktion im EU-Parlament.

Wer nach Europa will, muss vor die Einkaufszentren und durch die Fußgängerzonen ziehen. Im klas­sischen Straßenwahlkampf zählt auch jeder freie Laternenmast.

Dankbare Passanten

Eck und Gabriel finden vor dem Essener Hauptbahnhof und neben einer Ampel den perfekten Pfosten: völlig frei von CDU, SPD oder AfD. Der Kabelbinder ratscht, mit Fingerspitzengefühl schieben die beiden ein Küken-Plakat nach oben. Nicht zu hoch, damit die Autofahrer was sehen. Nicht zu tief, damit kein Feind der Partei per Fußtritt Politik machen kann.

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In Gladbeck steht die Familienpartei in der Innenstadt. Orangefarbenes Zelt, Broschüren, heißer Kaffee. Die Vorsitzende Maria Hartmann und Parteifreund Frank Bresonik lassen am Glücksrad drehen. Die Tierschützer in Essen versuchen beim Gang durch die Fußgängerzone mit Bürgern ins ­Ge­spräch zu kommen.

Wie reagieren die Menschen auf die Politik-Werber? Machen sie ei­nen großen Bogen? Winken sie ab? Werden sie gar sauer? Nichts dergleichen. Diese Art von Wahlkampf ist erstens schlicht und ­zweitens erstaunlich wirksam. Die Leute reagieren auf die persönliche Ansprache. Fast alle. Manche, oft Ältere, sind offenbar regelrecht froh darüber, dass sich mal wer für sie interessiert. Dabei ist es wohl nicht so wichtig, ob man über Politik redet oder übers Wetter.

Wer sind und was wollen die kleinen Parteien?

Wer sind und was wollen die kleinen Parteien?

Bei der Europawahl gibt es keine 5- oder 3-Prozenthürde mehr. Die kleinen Parteien wittern ihre Chance auf einen oder mehrere Sitze im Parlament. 19 Parteien, die bislang noch nicht im Europaparlament sind, treten in NRW an. Das Spektrum reicht von Trotzkisten bis zu Nationalisten, von Christen bis zu Humoristen. Unsere Reihenfolge entspricht der auf dem Stimmzettel.

Die Republikaner

"Welches Europa wollen wir? Kein Europa der zentralistischen Gleichmacherei, sondern ein Europa der Vaterländer." (Aus einem europapolitischen Papier der Partei)

Tierschutzpartei

"Mensch, Tier und Natur sind eine untrennbare Einheit. Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge." (Grundlagenprogramm, erster Satz der Präambel)

Piraten

"Die Krisen dürfen nicht dazu führen, dass man die europäische Integration aufgibt, den gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum abwickelt, sich aus dem Internet als Ort der freien Vernetzung zurückzieht oder gar in Zeiten der Globalisierung ein Zurück zu nationalstaatlicher Logik fordert." (Aus der Präambel des Europawahlprogramms)

Familien-Partei

"Wir wollen auch in Europa nach Jahrzehnten der Vernachlässigung durch die bisherigen Regierungen die Familie wieder in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens stellen." (Aus dem Europawahlprogramm)

Freie Wähler

"Viele Entscheidungen aus Brüssel wirken sich unmittelbar auf das Leben in unserer Heimat aus. Die EU stellt dabei zentralistisch viele politische Weichen, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger eingebunden werden" (Die ersten Sätze des Europawahlprogramms)

Ab jetzt... Demokratie durch Volksabstimmung

"Die Parteienherrschaft muss durch Volksabstimmungen demokratisiert werden, damit Politik für die Menschen gemacht werden kann. Politik für die Menschen, nicht für die Banken-, Pharma- und Energie-Lobby." (Aus der Präambel des Grundlagenprogramms)

Partei Bibeltreuer Christen

„Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist.” (Psalm 33,12. Er ist der Präambel des Grundsatzprogramms vorangestellt)

Ökologisch-Demokratische Partei

"Europa fußt auf christlich-humanistischen Werten. Die europäische Politik muss sich deshalb im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen für Gerechtigkeit, Frieden und für die Bewahrung der Schöpfung und damit der natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen." (Erster Satz des Kurzprogramms zur Europawahl)

Christliche Mitte

"Die CHRISTLICHE MITTE leitet Rechte und Pflichten des einzelnen Menschen, der menschlichen Gemeinschaft und der Völkerfamilie ab vom gottgewollten Naturrecht und christlichen Sittengesetz, den Zehn Geboten GOTTES." (Erster Satz des Grundsatzprogramms)

AUF - Partei für Arbeit, Umwelt und Familie - Christen für Deutschland

"In der jüdisch-christlichen Überlieferung, wie den zehn Geboten, in unserem Gewissen und durch unser unvoreingenommenes Denken gibt uns Gott ethische Maßstäbe für ein gelingendes Zusammenleben." (Aus dem Grundsatzprogramm)

Deutsche Kommunistische Partei

"Wir leben in einer Zeit, in der mit der weiteren Internationalisierung ökonomischer Prozesse und der wissenschaftlich-technischen Revolution unermessliche Möglichkeiten entstehen, die Schöpferkraft der Menschen und die Produktivität ihrer Arbeit zu entfalten. Hunger und Elend könnten weltweit überwunden werden." (Die ersten Sätze des Parteiprogramms)

Bayernpartei

"In tiefer Sorge und in voller Erkenntnis der immer stärker werdenden Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit Bayerns und der föderativen Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland und Europa sieht es die Bayernpartei als ihre vornehmste Aufgabe an, das bayerische Staatsbewusstsein und demokratische Prinzipien zu pflegen und gegen den aufkeimenden Zentralismus zu verteidigen." (Aus der Präambel des Grundsatzprogramms, genannt "Vorspruch")

Partei für Soziale Gleichheit

"Wir wollen eine politische und soziale Massenbewegung der europäischen Arbeiterklasse gegen das Kapital, seine Parteien und seine Regierungen entwickeln. Wir lehnen die Europäische Union und ihre undemokratischen Institutionen, einschließlich des Europäischen Parlaments, ab." (Aus den europapolitischen Grundsätzen der Partei)

Bürgerrechtsbewegung Solidarität

"Die BüSo ist die einzige Partei, die eine umfassende Lösung für diese beiden hauptsächlichen existentiellen Gefahren hat, die uns heute bedrohen: 1. die Gefahr eines dritten, diesmal thermonuklearen Weltkrieges, und 2. die Gefahr des drohenden Kollapses des transatlantischen Finanzsystems." (Aus dem Wahlaufruf)

Alternative für Deutschland

"Die europäische Einigung konnte Frieden und wachsenden Wohlstand ermöglichen, weil ihre Mitgliedsstaaten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft verwirklicht haben. Diesen Erfolgen stehen Auswüchse der EU in Form von Zentralismus, Bürokratie und Dirigismus entgegen, die den historischen Erfolg Europas in immer stärkerem Maße bedrohen. Zudem werden die Erfolge der europäischen Einigung immer stärker durch den Euro gefährdet." (Aus der Präambel des Europawahlprogramms)

PRO NRW

"In den Städten unseres Landes gibt es immer mehr rechtsfreie Räume, in denen sich selbst die Polizei nur noch in großer Zahl traut. „No-Go-Areas“ also – aber nicht für Ausländer oder Asylbewerber, sondern für die einheimischen Bürger!" (Aus den "Positionen", Website der Partei)

Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands

"Radikal, links, revolutionär – für den echten Sozialismus! Das ist der Weg, der über Europa hinaus führt, zu den vereinigten sozialistischen Staaten der Welt!" (Aus der Wahlzeitung)

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

"Der geographische, kulturelle und ethnische Ort der Deutschen auf der Welt ist Europa, das Abendland." (Aus der Präambel des Europawahlprogramms)

Die Partei

"JA zu Europa, NEIN zu Europa! Da genügend Irre für Europa (Schulz! Seehofer!) eintreten und ebenso viele Schwachköpfe (Lucke! Seehofer!) dagegen, haben wir beschlossen, die vakante Position »Europa ist uns egal!« zu besetzen. Das dürfte rund 72 Prozent der Wähler aus der Seele sprechen." (Aus dem Programm zur Europawahl)

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„Nein, nein, ich wähle FDP“

Ein Hochbetagter erzählt, er sei schon 90, habe eben erst Geburtstag gefeiert. Dass er Gewerkschafter war. Und dass es hier und da im Körper so furchtbar zwickt. „Die meisten reagieren absolut positiv“, versichert Stefan Eck, der Tierschützer. „Es sei denn, man gerät an einen Jäger.“ Tierschutzpartei und Jäger. Das muss man sich wohl so vorstellen wie Maus und Katze. Oder wie Putin gegen Obama.

„Hallo, junge Frau“, versucht Maria Hartmann in Gladbeck eine schwarzhaarige Dame ans Glücksrad zu locken oder zum Kaffee. Die Dame blickt sich irritiert um, erkennt die politische Botschaft und wehrt ab: „Nein, nein, ich wähle FDP.“ Gemäß der Logik der kleinen Parteien ist auch diese Stimme nicht verschenkt: Gibt ja keine Prozenthürde mehr. Aber für die Familienpartei ist sie verloren.