Bochum. Russland schafft Fakten auf der Krim, der Westen hält mit Sanktionen dagegen. Droht ein neuer Kalter Krieg? WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz sprach auf einer Veranstaltung des Forums „Herausforderung Zukunft“ mit Vize-Kanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel. Weitere Themen: Hoeneß und die Europawahl.

Das Hoeneß-Urteil. Die Krim-Krise. Die bevorstehende Europa-Wahl. Sigmar Gabriel, SPD-Chef und als Bundeswirtschaftsminister in Regierungsverantwortung, liebt klare Worte in den aktuellen Debatten. In der Wattenscheider St. Nikolaus-Kirche hat er sich vor vollem Kirchenschiff auf einer Veranstaltung des Forums „Herausforderung Zukunft“ den Fragen von WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz gestellt. Hier Auszüge aus dem Gespräch.

Reden wir über den stärksten europäischen Fußballverein. Sind Sie Bayern-Fan?

Sigmar Gabriel: Ich habe ein ganz bitteres Schicksal. Meine Frau und ihre ganze Familie sind Bayern München-Fans. (das Publikum lacht) Es ist eigentlich ein Grund zur Trennung. Denn ich bin Werder Bremen Fan. (lacht noch mehr)

Der Bayern-Präsident geht jetzt in den Knast. Ist das respektabel?

Gabriel: Er ist dazu verurteilt worden. Er wird Gründe haben, weshalb er nicht in die Revision geht. Das ist ja auch nicht ohne Risiko, weil der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit durchaus härter geurteilt hat. Dass Uli Hoeneß sich aber jetzt die Frage stellt, wie kann ich durch diese schwierige Lebensphase gehen und wie komme ich da wieder raus, das kann ich mir schon vorstellen. Ich habe zur Person Hoeneß ein gespaltenes Verhältnis. Ich schätze sehr, was er nicht nur für den Fußball, sondern auch für andere Dinge getan hat. Aber andererseits hat er massiv gegen das Recht verstoßen. Dafür muss er jetzt einen bitteren Preis zahlen. Der Fall Hoeneß zeigt aber, dass in unserem Land Gerichte ohne Ansehen der Person urteilen. Darauf bin ich als Bürger dieses Landes stolz.

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Können Sie sich vorstellen, wie diese Janusköpfigkeit zustande kommt, dass er sich selber rühmt für sein soziales Engagement - und dann so viel Geld hinterzieht?

Gabriel: Ich bin kein Küchenpsychologe. Ich weiß nur, dass die Abgründe bei uns Menschen tief sind. Er wird jetzt hart bestraft, und wie bei jedem anderen Straftäter wünsche ich mir, dass Menschen, die ihre Strafe verbüßen, von unserem Land immer wieder neu aufgenommen werden und neue Chancen erhalten. Das gilt für Uli Hoeneß wie für jeden anderen Straftäter.

Müssen wir diese schrägen Selbstanzeigen abschaffen? Weg damit?

Gabriel: Wir müssen sehen, aus welcher Zeit diese Selbstanzeigen kommen. Das war aus einer Zeit, in der Leute kleine Beträge hinterzogen haben, als Handwerksmeister die Rechnungen anders abgerechnet haben als nach dem deutschen Steuerrecht. In Bochum ganz bestimmt nicht (Lachen im Publikum). Aber denen hat man gesagt: Wenn Ihr Euch dazu bekennt, dann braucht ihr keine Angst zu haben, dass Ihr bestraft werdet. Heute erleben wir aber anderes, es gibt Finanzspekulationen in völlig anderen Größenordnungen. Deswegen bin ich dafür, dass wir eine Frist setzen: Eine Zeit lang sollten Selbstanzeigen noch gelten, danach nur noch für Bagatelldelikte. Man sollte ja auch die Kirche im Dorf lassen. Ist das hier eigentlich eine evangelische oder katholische Kirche?

Eine katholische.

Gabriel: Das ist aber spartanisch. Ich bin Protestant. Ich habe immer die katholischen Kirchen so schön gefunden. Die hier ist ja wie unsere (Lachen im Kirchenraum).

Über die Krim-Krise

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Die „Zeit“ hat geschrieben, wenn die Russen die Krim annektieren, wäre dies die erste Annexion in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie würde das Europa verändern?

Gabriel: Naja. Ich erinnere mich noch gut, wie die Amerikaner in den 70er und 80er Jahren mit ihrem als Hinterhof bezeichneten Teil, nämlich Lateinamerika, umgegangen sind. Also: Nicht nur Russland hat so eine Politik gemacht. Auf Europa bezogen ist das richtig. Was der russische Präsident da macht, ist ein Rückfall in eine Form von imperialer Machtausübung, von der wir dachten, dass wir sie im 21. Jahrhundert überwunden hätten. Das macht das gefährlich. In Osteuropa gibt es viele, die fürchten, dass nach der Ukraine die Destabilisierung des Baltikums kommt. Deswegen muss Europa eine Antwort geben. Unsere Hoffnung ist, dass die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister den russischen Präsidenten überzeugen können, dass es nach dem Wochenende trotzdem einen Weg an den Verhandlungstisch gibt. Ich habe dem russischen Präsidenten gesagt, dass er die Verantwortung trägt, wenn Europa zurückfällt in den Kalten Krieg. Denn was bedeutet kalter Krieg: Dass wir in Ost und West wieder beginnen, in Militär und Panzer zu investieren und nicht in Schulen und Kindergärten. Uns droht, dass wir wieder beginnen, uns voneinander zu entfernen.

Putins Handeln birgt hohes Risiko für Russlands Wirtschaft 

Was einen erschreckt, ist die Asymmetrie der Auseinandersetzung. Putin fährt Panzer auf, Tausende Soldaten stehen auf der Krim. Wir reden dagegen. Aber er lässt uns abprallen und kündigt als Reaktion auf die ersten Sanktionen sogar Gegensanktionen an. Kann ein Demokrat noch gegen einen Nichtdemokraten ankommen?

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Gabriel: Kurzfristig sehen die Nichtdemokraten immer stärker aus. Mittelfristig sind sie das in der Weltgeschichte nie gewesen. Ob Putin der Verlierer ist, weiß ich nicht. Aber er hat für seine Wirtschaft auch ein hohes Risiko. Sie ist nicht in besonders guter Verfassung.

Kämen wir ohne Russengas klar?

Gabriel: 35 Prozent des deutschen Gasverbrauchs kommen aus Russland und auch 35 Prozent der Öllieferungen. Natürlich kommen wir nicht ohne die russischen Lieferungen klar. In Deutschland wird jetzt viel gefragt, ob die aufhören, uns Gas zu liefern. Da bin ich ganz ruhig. Russland hat auch in den tiefsten Zeiten des Kalten Krieges Gas geliefert. Der gesamte russische Staatshaushalt hängt davon ab. Sie leben davon. Wenn wir morgen hier in Europa eine Gasquelle entdecken und 20 Prozent weniger abnehmen würden, dann gäbe es auf der anderen Seite ein großes Problem.

Was wird passieren?

Gabriel: Meine Vermutung ist, dass es jetzt noch ein Wechselspiel aus mehr oder weniger erträglichen Sanktionen gibt und dann am Ende der Weg zum Verhandlungstisch offen ist. Ob es noch einmal ein Zurück gibt in Sachen Krim, ist noch einmal eine ganz andere Frage. Aber auch Europa muss sich Fragen stellen. Es hat bei den Verhandlung über das Assoziierungsabkommen auch die komplizierte Lage in der Ukraine unterschätzt. Sie ist ja im Gefühl der Russen Teil ihres Landes. Man kann also aus europäischer Sicht keine Entweder-Oder-Politik machen: Entweder zu uns oder zu Russland. Klar ist aber auch: Fehler in der europäischen Politik sind aber kein Grund, in die Ukraine einzumarschieren.

Es gibt bei uns viele Vorbehalte gegen Sanktionen.

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Gabriel: Das kann ich verstehen. Aber die entscheidende Frage ist am Ende: Sind wir bereit, zu akzeptieren, dass mit imperialen Mitteln andere Länder bedrängt und besetzt werden? Wenn wir das zulassen, sollten wir nie wieder von der Europäischen Union als Wertegemeinschaft reden. (Lauter Beifall) Hinter dem Begriff Westen verbirgt sich mehr als eine geografische Bezeichnung. Den Westen verbindet eine bestimmte Vorstellung von den Freiheitsrechten und Menschenrechten des Einzelnen. Der Westen hat universelle Ansprüche an das Zusammenleben der Völker. Das darf er nicht aufgeben. Uns verbindet auch mit den Vereinigten Staaten, bei aller Kritik an Dingen wie NSA, kulturell und in der Politik und in den Ideen immer noch mehr als mit jedem anderen Teil der Erde. Ich bin für den Wandel durch Annäherung. Aber nicht um den Preis der Aufgabe der Freiheitsidee des Westens.

Was Gabriel über Europa denkt 

Wer verspottet Europa? Das macht doch ihr als Nationalpolitiker. Ihr sagt doch: Wenn es gut läuft, dann sind es wir. Wenn es schlecht läuft, dann ist es Brüssel.

Gabriel: Ich glaube nicht, dass ich das so mache. Aber Sie haben recht. Das gibt es. Und noch schlimmere Sachen. Dass die nationalen Politiker unangenehmere Sachen nicht machen, sie über Brüssel anschieben, um dann hinterher der Bevölkerung zu sagen: Wir waren es nicht. Das waren die in Brüssel. Jede Form von Dummheit ist im Alltag möglich und deshalb auch in der Politik. (Großer Beifall)

Das schaffen wir jetzt also ab?

Gabriel: Ich werbe dafür. Diese permanente Verleumdung Europas geht nicht so weiter. Aber nicht alles ist ja Verleumdung: Es gibt auch Blödsinn und Unvollkommenheiten...

Die Abschaffung der alten Glühbirnen war Quatsch, ja?

Gabriel: Das glaube ich wieder nicht. Damit kann man ja Geld sparen. Und gerade in der Umweltpolitik ist Europa wichtig: Der Rhein hat heute mit wenigen Ausnahmen den gleichen Fischbestand wie vor der Industrialisierung. Das wäre ohne europäische Politik nicht möglich gewesen.

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Die Zahl der Rechtspopulisten wächst. Ist es möglich, dass wir nach der Europawahl eine andere Landschaft haben im europäischen Parlament, dass die antieuropäischen Stimmungen drastisch zunehmen? Und ist vor diesem Hintergrund nicht die Drei-Prozent-Hürde für den Einzug von Parteien ins Parlament eine Eselei?

Gabriel: Ein Mitglied der Bundesregierung wird sich hüten, ein Verfassungsgericht als Esel zu bezeichnen. Das Urteil ist knapp gefallen. Aber in dem Urteil kommt ein ziemlicher Hochmut gegenüber dem europäischen Parlament zum Ausdruck. Ich hätte mir anderes gewünscht. Dass wir jetzt sogar eine Debatte darüber haben, dass die Fünf-Prozent-Hürde in Deutschland fallen soll, was noch mehr zur Zersplitterung der Parlamente beitragen kann, halte ich für keine kluge Idee.

Ist die Euro-Krise überwunden?

Gabriel: Ich will nicht sagen, dass sie überwunden ist. Wir haben sie bisher ganz gut gemanagt. Aber es gibt erhebliche Risiken. Wir wissen immer noch nicht, welche in einzelnen Großbanken stecken. Die Regeln über die Bankenunion, wo wir die Eigentümer und Anteilseigner in die Verantwortung nehmen wollen statt den Steuerzahler, ist noch nicht verabschiedet. Wir haben immer noch keine ausreichende Regulierung der Finanzmärkte und der Schattenbanken. Dass die Finanzmärkte international nicht vernünftig reguliert sind, ist einer der ganz großen Fehler der Politik. Wir sind längst nicht durch.

In Spanien sind 50 Prozent der unter 25-jährigen arbeitslos. Da geht gerade eine ganze Generation den Bach runter. Gibt es da eine europäische Antwort?

Gabriel: Das ist eine der großen Schatten der europäischen Politik der letzten Jahre. Die Gefahr ist da, dass wir eine ganze Generation in die Arbeitslosigkeit schicken – ausgerechnet die Generation, die Europa weiterbauen soll. Wenn die also die Erfahrung machen, Europa zerstört meine Zukunft, dann werden sie sich nicht so richtig intensiv darum kümmern. Was kann man machen? Erstens: Verstärkt in Wachstum investieren. Aber das ist nicht so einfach. Viele in Spanien und Frankreich haben nur eine schulische oder akademische Ausbildung. Diese betriebsnahe Ausbildung, wie wir sie kennen, gibt es dort nicht. Zweitens: der spanische Arbeitsmarkt ist falsch reguliert und dereguliert. Wenn Sie dort einen Job haben, passiert Ihnen nichts. Wenn Sie rein wollen, erhalten sie nur so genannten Praktika. Aber es gibt erste zarte Pflänzchen in Südeuropa, Anzeichen, dass es besser wird.

Gabriel und der Merkel-Fan-Club der SPD 

Wir sollten noch über Ihre Chefin reden...

Gabriel: Meine Frau?

Sind Sie noch Vorsitzender des Merkel-Fan-Clubs der SPD?

Gabriel: Es gibt keine Chefin in der deutschen Politik. Das ist der große Vorteil der deutschen Verfassung. Sie hat zwar eine Richtlinienkompetenz. Wenn sie sie einmal ausübt, ist die Koalition zu Ende. Deswegen ist Frau Merkel viel zu klug, um so zu führen. Außerdem trägt sie ihr Amt nicht wie eine Monstranz vor sich her. Sie nimmt sich persönlich zurück, hat Selbstironie und Humor. Sie würde nie im Leben die Chefin rauskehren. Das würde nicht ihrer Persönlichkeit entsprechen. Was nicht täuschen darf: Die Härte, mit der sie Entscheidungen durchsetzt, hat sie häufig genug in der eigenen Partei unter Beweis gestellt. Die Tatsache, dass man politisch anderer Auffassung ist, muss nicht dazu führen, dass man sich menschlich nicht respektiert. Wir sollten nicht so tun, als ob immer nur in der anderen Partei Idioten sitzen und in den eigenen Reihen nur die Dollen. Wir als Sozis glauben aber, bei uns sitzen ein paar mehr Dolle als bei den anderen.