Wesel. Trotz eines dicht gefüllten Terminkalenders nahm sich der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück beim Ortstermin in Wesel für die NRZ-Leser viel Zeit.
Und plötzlich wird ein Kanzlerkandidat ganz nahbar: „Sonst hat man ja einen ganz anderen Eindruck von dem. Und dann sitzt der hier und isst ganz entspannt seine Brötchen.“ Peer Steinbrück (SPD) hat sich gestern im Wahlkampfstress Zeit genommen für ein Gespräch mit sechs NRZ-Lesern in der Weseler Lokalredaktion. Sie haben ihn gelöchert. Mit Fragen zur Pflege, zum Fracking, zur Landwirtschaft, zur Zuwanderung, zu Kitas und zu einer Großen Koalition. Steinbrück antwortete bereitwillig - und führte ein launiges Telefonat mit einem Jubilar.
NRZ-Leserin Manuela Spaltmann, 41 Jahre, Altenpflegerin aus Wesel, fragt: Was wollen Sie für die Pflegebedürftigen und die Pflegenden tun?
Peer Steinbrück: Erstens: Wir brauchen eine umfassende Pflegereform, um unserer älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden. Dazu gehört auch ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, der Demenzkranke einbezieht. Wir werden zudem die häusliche Pflege und das altersgerechte Wohnen fördern müssen, damit Menschen so lange wie möglich zu Hause altern können. Ich habe persönlich die Erfahrung mit meiner Mutter gemacht, die in ihren letzten Lebensjahren mit ihrem Rollator nicht mehr ins Bad kam. Sie musste zu Fuß gehen, und mein Bruder und ich hatten immer die Befürchtung, dass sie stürzt. Zweitens: Wir müssen pflegende Angehörige entlasten, indem wir ihnen eine Auszeit vom Beruf ermöglichen, mit einem Rückkehrrecht und Lohnersatzleistungen. Und drittens brauchen wir in absehbarer Zeit 120.000 bis 130.000 Pflegekräfte. Der Beruf muss attraktiver werden. Wir müssen sie also besser bezahlen und Aufstiegschancen sowie Arbeitsbedingungen verbessern.
Manuela Spaltmann: Aber wie wollen Sie das finanzieren?
Steinbrück: Durch eine Erhöhung des Beitragssatzes der Pflegeversicherung um 0,5 Prozent. Das bringt sechs Milliarden Euro jährlich.
Gabriela Obschernicat, 60 Jahre, Rentnerin und Mitglied einer Bürgerinitiative aus Hamminkeln: Wie stehen Sie zum Fracking?
Steinbrück: Der Sachstand ist ziemlich klar: Die SPD im Bund und auf Länderebene hält Fracking derzeit für nicht akzeptabel, insbesondere in Wasserschutzgebieten. Wir werden Fracking nicht genehmigen, solange es mit dem Einsatz von Stoffen verbunden ist, deren Umweltauswirkungen nicht absehbar sind.
Gabriela Obschernicat: Dazu müssten Sie bestehende gesetzliche Regelungen ändern.
Steinbrück: Ich weiß. Es wird Änderungen im Bergrecht geben müssen. Da sehe ich aber keine Schwierigkeiten bei einer rot-grünen Mehrheit.
Christian Diehr, 42 Jahre, Angestellter bei den Wirtschaftsbetrieben in Duisburg: In Duisburg-Rheinhausen gibt es Probleme mit Zuwanderern aus Osteuropa. Manche passen sich nicht an, manche sind kriminell. Was gedenken Sie zu tun?
Steinbrück: Viele zugewanderte Menschen stammen aus EU-Staaten. Für sie gilt das Recht auf freie Niederlassung. Wofür wir aber vor allem sorgen müssen ist, die Lebenssituation der Menschen in ihren Heimatländern zu verbessern. Da müssen wir auf europäischer Ebene massiver auf Länder wie Rumänien und Bulgarien einwirken. Denn diese Länder bekommen EU-Mittel zur Verbesserung der Lebenssituation zum Beispiel von Sinti und Roma. Es muss zudem Schluss sein mit der Diskriminierung dieser Menschen in ihren Heimatländern. Die betroffenen Kommunen brauchen außerdem mehr Unterstützung durch Bund und Länder. Und wir müssen dafür sorgen, dass es nicht zu solchen Konzentrationen von Zuwanderern wie in Rheinhausen kommt.
Johann Hülsmann, 76 Jahre, Landwirt aus Brünen: Über die Landwirtschaft redet die Politik überhaupt nicht. Wenn die Grünen mit Ihnen an die Regierung kommen und das Landwirtschaftsministerium übernehmen, sehe ich schwarz. Wie stellen Sie sich die künftige Landwirtschaftspolitik vor?
Steinbrück: Moderne Landwirtschaftspolitik kann nicht losgelöst diskutiert werden. Sie muss vielmehr eingebettet sein in eine Politik für den ländlichen Raum und die Verbesserung der Lebensqualität dort. Dazu brauchen wir eine integrierte Förderpolitik, damit gesellschaftliche Aufgaben besser erfüllt werden können, vor allem im Hinblick auf Verbraucherschutz, Landschaftsschutz und Umweltschutz. Auch bei der Tierhaltung muss es Veränderungen geben. Wir haben in Deutschland eine Entwicklung hin zu einer Massentierhaltung, die auf Dauer nicht vertretbar ist. Eine Vielzahl von Landwirten ist verantwortungsvoll, andere sind es nicht. Wir müssen deshalb die Tierschutzgesetzgebung und die Nutztierverordnung verändern, auch im Sinne des Verbraucherschutzes.
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Kathrin Wanders, 23 Jahre, Angestellte einer Krankenkasse aus Kleve: Ich bin in dem Alter, wo man sich Gedanken über das Kinderkriegen macht. Wie sieht das mit den Kitaplätzen aus? Ich habe einen sicheren Job. Kann ich in den zurück, nachdem ich ein Kind bekommen habe? Kann ich einen Kitaplatz auch finanzieren?
Steinbrück: Das ist eine der ganz zentralen Zukunftsfragen: nämlich, junge Menschen zu ermuntern, Kinder in die Welt zu setzen. Dabei geht es in erster Linie darum, für ein tatsächliches Wahlrecht von jungen Frauen sorgen, damit sie Beruf und Kinder in Einklang bringen können. Dazu müssen wir mehr Geld in die Hand nehmen: für Ganztagskitas und Ganztagsschulen. Die SPD will deshalb das unsägliche Betreuungsgeld abschaffen und mehr Geld in Bildung investieren, indem die Steuern für die höchsten Einkommen und privaten Vermögen erhöht werden. Davon sind 95 Prozent der Bevölkerung überhaupt nicht betroffen. Wir wollen zudem Schritt für Schritt zu einer gebührenfreien Kita kommen. Wenn es gelänge, in den nächsten vier bis fünf Jahren die Kitas gebührenfrei zu stellen, wäre das die größte finanzielle Entlastung für die Familien.
Klaus Paffendorf, 49 Jahre, Unternehmer aus Moers: Sollte es am Sonntag nicht zu einer eindeutigen Mehrheit kommen und die Große Koalition anstehen – können wir da mit Ihnen rechnen?
Steinbrück: Ich habe klipp und klar gesagt: Ich gehe nicht als Minister in ein Kabinett Merkel. Ich habe das vier Jahre gemacht und damals vertrauensvoll mit ihr zusammengearbeitet. Sie ist dann aber eine Liebesheirat mit der FDP eingegangen und macht seitdem die falsche Politik. Die SPD kämpft bis zur Schließung der Wahllokale für Rot-Grün. Der Wählerwille ist abzuwarten und zu respektieren. Ich werde vorher nicht spekulieren.