Washington. Kurz vor den für Donnerstag geplanten Gesprächen zwischen US-Präsident Barack Obama und Afghanistans Präsident Hamid Karsai wird in Washington über einen kompletten Rückzug der Amerikaner vom Hindukusch schon 2014 spekuliert. Experten halten das Szenario für eine Drohgebärde in Richtung Karsai.

Nach dem geplanten Ende des Kampfeinsatzes in Afghanistan Ende 2014 stand bis vor kurzem vieles zur Debatte - eines nicht: der vollständige Rückzug der Amerikaner. Unmittelbar vor den für Donnerstag angesetzten Gesprächen zwischen Afghanistans Präsident Hamid Karsai und Präsident Obama in Washington hat die US-Regierung zum ersten Mal die Option eines Totalabzuges ins Gespräch gebracht. „Wir schließen nichts aus“, sagte Obamas Sicherheitsberater Ben Rhodes vor Journalisten.

Um zu verhindern, dass Afghanistan erneut ein Rückzugsort des radikalislamischen Terrornetzwerks El Kaida wird und so die nationale Sicherheit Afghanistans und angrenzender Länder gefährdet, gebe es Szenarien, die auf die Präsenz von US-Truppen verzichten, so Rhodes. In den Ländern, die mit Amerika seit über zehn Jahren am Hindukusch im Einsatz sind, haben die Äußerungen Irritationen ausgelöst. „Jeder guckt, was die Amerikaner machen. Wenn sie Ende 2014 komplett gehen, wird auch kein anderer länger bleiben“, sagte ein europäischer Diplomat in Washington auf Anfrage.

Was die Gedankenspiele für die Bundeswehr bedeuten, ist noch unklar

Was die Gedankenspiele für die Bundeswehr bedeuten, ist zurzeit noch unklar. Derzeit sind rund 4300 deutsche Soldaten am Hindukusch stationiert, in einem Jahr sollen es 3300 sein. Ab 2015, so die vorläufige vorsichtige Planung in Berlin, wurde mit dem Verbleib von 1000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gerechnet.

Aus US-Sicht sahen die Zahlen bisher so aus: Von derzeit noch 68.000 GI's sollte das Gros bis Ende 2014 nach Amerika zurückkehren. Um die Sicherheit danach zu gewährleisten, hat das Verteidigungsministerium Szenarien mit Truppenstärken zwischen 6000 und 20.000 Soldaten entwickelt.

Der federführende General John Allen vertritt dabei die naturgemäß militärisch geprägte These: Je weniger Soldaten, desto größer das Risiko. Je weniger Soldaten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass bisher erzielte Fortschritte bei der Befriedung des Landes zunichte gemacht werden könnten. Im Weißen Haus gibt es widerstreitende Meinungen. Während einige Sicherheitsberater dem Militär folgten, plädierten andere für eine kleine, schlagkräftige Anti-Terror-Einheit von maximal 2500 Soldaten, die - unterstützt von unbemannten Drohnen - im Falle eines Erstarken der Taliban zum Einsatz kommen könnte.

Nur eine Drohgebärde in Richtung Karsai?

Übereinstimmend kommen Beobachter aber zu dem Schluss, dass Washington Afghanistan nach 2014 „nicht sich selbst überlassen wird“. Schließlich sei bereits 2012 ein Grundsatzabkommen unterzeichnet worden, dass Kabul bis 2024 internationale Unterstützung zusichert; allerdings ohne die Nennung von Truppenstärken.

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Die Überlegung eines Totalabzuges ist aus Sicht von Afghanistan-Kennern in verschiedenen Denkfabriken in Washington daher vor allem eine Drohgebärde in Richtung Karsai. Der afghanische Präsident weigert sich bisher, in einem noch ausstehenden Truppenabkommen (Status of Forces Agreement/SOFA) für die Zeit nach 2014 ausländischen Soldaten im Falle von Straftaten Immunität vor der afghanischen Justiz zu gewähren. Aus Sicht der Nato sollen sie ausnahmslos in ihren Heimatländern belangt werden.

Bleibt Karsai hart, so ein Fachmann bei der Denkfabrik Brookings, wird die Obama-Regierung „es wie 2011 im Irak machen - und alle Truppen abziehen“. Daran könne Karsai aus heutiger Sicht nicht gelegen sein. Zwar mache der von Amerika bisher mit über 50 Milliarden Dollar unterstützte Aufbau der afghanischen Sicherheitsbehörden - Armee und Polizei - weiter Fortschritte. Von der Fähigkeit, allein für die Sicherheit in Afghanistan sorgen zu können, sei man aber „noch meilenweit entfernt“. Nach einem aktuellen Bericht des Pentagon ist derzeit nur eine von 23 afghanischen Armee-Brigaden in der Lage, ohne die Unterstützung der USA oder der Nato eigenständig zu operieren.