Washington. . Obamas Besuch am Hindukusch sollte ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen den USA und Afghanistan einläuten. Doch Antworten auf drängende Fragen gab der US-Präsident nicht. Die Taliban indes reagieren wie gehabt – mit Bomben.
Barack Obama liefert, was er bei Amtsantritt 2009 versprochen hat: die Beendigung zweier Kriege. Und die schnellstmögliche Heimholung amerikanischer Soldaten. Nachdem das Thema Irak für die USA abgehakt ist, sind nun die Weichen in Afghanistan endgültig auf Abzug gestellt. Ab Januar 2015 macht sich die Supermacht am Hindukusch militärisch ganz klein und überlässt den Afghanen das Feld. Bis 2024 steht Amerika dem geschundenen Land aber weiter zur Seite. Das war die Kernbotschaft Obamas bei seinem Blitzbesuch in Kabul. Entscheidende Details – Manpower und Finanzen – blieben offen. Ist das Versprechen des Präsidenten nur ein Lippenbekenntnis? Fragen und Antworten auf einen Blick:
Wie viel Wahlkampf steckte in Obamas dritter Afghanistan-Reise?
Mindestens 51 Prozent. Obama weiß, dass die amerikanische Bevölkerung nach bald 12 Jahren am Hindukusch mit 1950 toten und 15 000 verwundeten US-Soldaten die Nase voll hat vom Krieg. Ähnlich wie Georg W. Bush, der am gleichen Tag vor neun Jahren auf einem Flugzeugträger das Ende der Kampfhandlungen im Irak verkündete, ging Obama, wenn auch weniger martialisch, mit seiner Version von „Mission accomplished“ (Job erledigt) an die Öffentlichkeit. Das soll sich bei der Wahl ums Weiße Haus am 6. November auszahlen.
Was hat Obama bei seiner Rede auf der Militärbasis Bagram ausgelassen?
Das Wichtigste: Wie viele US-Soldaten bleiben in welcher Funktion über 2014 hinaus im Land? Was geschieht mit den Dutzenden US-Militärbasen? Genießen US-Soldaten weiter vollständige juristische Immunität, wenn sie Afghanen erschießen? Und: Wer bezahlt den Afghanen wie viel Geld, um a) die eigenen Sicherheitskräfte auf Sicht bei der Stange und b) die vorhandene Schein-Wirtschaft halbwegs am Laufen zu halten? Klar ist, dass die USA einen nennenswerten Anteil übernehmen werden, die Rede ist von 2,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Gemessen an den 100 Milliarden, die zurzeit der Militäreinsatz alles zwölf Monate kostet – beinahe Kleingeld. Für die übrigen Partner innerhalb der Nato geht das Ringen jetzt aber erst richtig los. Alle haben die Hand auf dem Portemonnaie. Beim Nato-Gipfel in drei Wochen in Chicago muss Farbe bekannt werden. Soll das Fundament für die Zeit nach 2014 solide werden, muss vor allem Europa tiefer in die Tasche greifen. Das erwartet Washington. Amerika richtet den Blick längst auf Asien und den Pazifik.
Was genau will eigentlich Obama?
Als Präsident in die Geschichte eingehen, der andererleuts Abnutzungskriege (Georg W. Bush) verantwortungsvoll beenden kann, ohne die USA erneut Terrorgefahren a la El Kaida auszusetzen. Darum die vielen, aber vergleichsweise billigen Drohnen-Angriffe gegen Terror-Kommandeure weltweit. Das frei werdende Geld will er in die dringend nötige Reparatur des ziemlich kaputten amerikanischen Traums investieren; sprich: Straßen und Schulen bauen, den Arbeitsmarkt flott machen, die Sozialsysteme entlasten und das Staatsdefizit abbauen.
Wie ist der Ausblick, den Obama für Afghanistan gegeben hat?
Sehr optimistisch. Armee und Polizei in Afghanistan sind - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - auf Sicht unsichere Kantonisten; auch wenn inzwischen mehr Männer in Uniform mit einer Waffe umgehen können als vor fünf Jahren. Bleibt der Sold aus, weil der bankrotte Staat nicht zahlt, wechselt man gerne mal zu Kriegsfürsten, die ihre „Lohnkosten“ aus dem unverändert sprießenden Drogenanbau oder anderen kriminellen Geschäften bestreiten. Eine flächendeckende Wirtschafts- und Infrastruktur, die unanfälliger machen könnte für religiös verirrte Extremisten, existiert abgesehen von wenigen Oasen (z. B. Masar-i-Scharif) nicht. Im Gegenteil. Gehen die Truppen und mit ihnen die großen ausländischen Geldtöpfe, steht Afghanistan ein empfindlicher Abschwung bevor. Zigtausende junge Menschen, die heute für die USA oder die Nato arbeiten, werden arbeitslos.
Warum ist das jetzt unterzeichnete Partnerschaftsabkommen mit den USA für den afghanischen Präsidenten Karsai ein fast unlösbares Problem?
Der „Deal“ verlangt den Taliban im Grunde ab, eine Koexistenz mit amerikanischen Truppen über 2014 hinaus zu akzeptieren; aus heutiger Sicht unvorstellbar. Im Süden und Osten des Landes setzen sie, unterstützt aus Pakistan, den USA unverändert erfolgreich zu. Warum sollten sie sich an den Verhandlungstisch setzen? Karsai braucht die Amerikaner als Schutzmacht, den Taliban erscheinen die „Ungläubigen“ als Besatzer, die es nach Hause zu bomben gilt. Die schweren Anschläge direkt nach Obamas Abflug, bei denen ein Dutzend Menschen starb, unterstreichen den demonstrativen Unwillen der Taliban, ohne die ein substanzieller Frieden in Afghanistan unmöglich ist.
Kann Washington langfristig auf Kabul bauen?
Auch das ist ungewiss. Nach heutigem Stand wird in Afghanistan 2014 gewählt. Karsai, trotz aller Defizite, Korruptionsanfälligkeiten und Winkelzüge ein inzwischen berechenbarer Partner, darf laut Verfassung nicht wieder antreten. Wer nach ihm kommt, und: mit welcher Autorität, weiß heute noch niemand.
Was bedeutet der Abzug des Westens bis Ende 2014 für das Vielvölkergemisch Afghanistans?
Elf Jahre Krieg haben die ethnisch tief gespaltene afghanische Gesellschaft nicht näher zusammenrücken lassen. Paschtunen und Tadschiken, um nur zwei relevante Gruppen zu nennen, beäugen einander zunehmend argwöhnisch. Ausländer, die seit längerem im Land leben, halten einen Bürgerkrieg für kein unwahrscheinliches Szenario, wenn die ausländischen Truppen gehen.