Chicago. . Der umstrittene Raketenschild bereitetet den Nato-Staaten beim großen Gipfel in Chicago wenig Kopfzerbrechen. Relativ schnell winkten sie das Thema durch. Viel problematischer: der Afghanistan-Abzug. Erst nach langen Debatten konnten sich die mächtigen Staatschefs auf eine gemeinsame Linie einigen.

Angela Merkel weiß, wie sich Ärger anfühlt. Beim Nato-Gipfel in Chicago hat sie Schulter an Schulter mit ihm am runden Tisch gesessen. Links Griechenland. Rechts Frankreich. In der Mitte die Kanzlerin. Sie hat es ausgesessen. Ausgehalten.

Vor allem Francois Hollande. Dass der neue erste Mann im Elyséepalast aus dem Afghanistan-Einsatz ausbüxt und seine 3100 Soldaten bereits in diesem Dezember und nicht (wie vorher von seinem Vorgänger Sarkozy versprochen) erst Ende 2014 heimholen will, hat der deutschen Regierungschefin ganz und gar nicht gefallen.

Gemeinsam rein, gemeinsam raus. An diesem Leitfaden, den der Westen vor zehn Jahren in Afghanistan ausgerollt hat und der gestern beglaubigt wurde, habe man sich strikt zu orientieren. Sagte Außenminister Westerwelle. Sagte später auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière. Ließ die Kanzlerin sagen. Und es klang wie ein „Wo kommen wir denn da hin?“.

Hollandes Entgegenkommen

Dieser Dreiklang erzeugte alsbald Klarstellungen hinter den verschlossenen Türen des hermetisch abgeriegelten Kongresszentrums am Lake Michigan, wo die westliche Verteidigungs-Allianz auf Einladung von US-Präsident Obama gipfelte; begleitet von teils heftigen Protesten draußen in der Schwüle der Stadt. Hollande ließ durchblicken, dass lediglich der kampfbereite Teil der Resttruppe in der eher friedlichen Provinz Kapisa früher nach Hause kommt. Am Flughafen Kabul, in einer Offiziersschule und bei der Schulung afghanischer Sicherheitskräfte werde man sich sehr wohl weiter engagieren, soll der Sozialist versichert haben. Näheres nach den Parlamentswahlen in Frankreich Mitte Juni.

Eine kosmetische Geste gegen das schleichende öffentliche Zerbröseln der Afghanistan-Allianz, die vor nichts mehr Angst hat als vor einem unkontrollierbaren Dominoeffekt unter den übrigen Truppenstellern. Das beruhigte die anderen 27 am Nato-Tisch. Ein bisschen jedenfalls. Die deutsche Strafpredigt-Rhetorik wich später versöhnlicheren Tönen: Hollande lasse die Nato doch nicht „im Stich“. Sprengsatz entschärft. Knatsch vermieden.

Weniger konfliktträchtig das heimliche Hauptthema des Gipfels: Mehr Sicherheit schaffen mit weniger Geld. Im Nato-Sprech heißt das „smart defense“ – clevere Verteidigung. Weil Amerika nicht mehr den Löwenanteil der Veranstaltung übernehmen will und die übrigen Partner sowieso nie den geforderten Anteil von zwei Prozent des Bruttosozialprodukts eingezahlt haben, soll nun gemeinsam intelligent angeschafft und gespart werden. Mit fünf Hochleistungsdrohnen zur Luftraum-Überwachung riesiger Territorien aus 20 Kilometer Höhe geht es los. 13 Nato-Länder wollen sich das Vorzeigeprojekt teilen. Bei der Raketenabwehr dagegen sitzen alle mit im Boot.

Russland macht nicht mit

In Chicago hat die Nato den Startschuss für das Projekt gegeben, das bis 2020 den Kontinent vor Angriffen aus übel meinenden Staaten (als Beispiel wird stets der Iran angeführt) schützen soll. Mit Abfangraketen auf US-Kreuzern im Mittelmeer, einer Marinebasis in Spanien und Radar-Lauschern im Südosten der Türkei geht es los. Schaltstelle wird die US-Basis Ramstein in Rheinland-Pfalz sein.

Später sollen Basen in Polen und Rumänien dazukommen, von denen aus im Falle eines Falles Raketen aufsteigen würden, die andere Raketen abfangen. Problem dabei: Russland will nicht mit unter den mobilen Verteidigungsschirm, sieht seine eigenen Abschreckungspotenziale durch den Akt der anderen bedroht. Da kann Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen noch so oft sagen, dass sich die Unternehmung keinesfalls gegen Moskau richtet.