Gaza-Stadt/Kairo. Der Konflikt zwischen Israel und der im Gazastreifen herrschenden radikalen Palästinenserorganisation Hamas droht gefährlich zu eskalieren. In Israel wurden Reservisten einberufen und Truppen näher an die Grenze verlegt, offenbar in Vorbereitung einer Bodenoffensive.

Die seit Jahren schwersten Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern schüren Sorgen vor einem neuen Nahost-Krieg. In Tel Aviv ertönte am Donnerstagabend Raketenalarm. Bewohner gingen in Deckung aus Angst, die größte israelischen Stadt könne erstmals seit dem Golf-Krieg von 1991 wieder von Geschossen getroffen werden. Verteidigungsminister Ehud Barak kündigte umgehend Vergeltung an. Zuvor waren erstmals seit dem Ausbruch der jüngsten Feindseligkeiten drei Israelis durch Raketen aus dem Gazastreifen getötet worden, während Israels Luftwaffe ihre Angriffe auf das Küstengebiet fortsetzte. Nach Angaben der Armee wurden binnen einer Stunde etwa 70 Ziele im Gazastreifen beschossen. Am frühen Abend hatten Hamas und Islamischer Dschihad aus dem Gazastreifen zwei Raketen auf den Großraum Tel Aviv abgeschossen. Bei dem ersten Einschlag von Raketen in der Metropolenregion seit über 20 Jahren wurde niemand verletzt. Die Zahl der getöteten Palästinenser stieg auf 19, darunter fünf Kinder. Die von Islamisten regierte Regionalmacht Ägypten zog ihren Botschafter aus Jerusalem ab und verurteilte die israelischen Angriffe als „inakzeptable Aggression“.

Israels gezielte Tötung des Militärchefs der im Gazastreifen regierenden Hamas hatte am Mittwoch den vorläufigen Höhepunkt der jüngsten Auseinandersetzung markiert. Radikale Palästinenser feuerten daraufhin nach israelischen Angaben seit Mitternacht mindestens 135 Raketen auf den jüdischen Staat. Mehrere Geschosse waren auf Tel Aviv gerichtet, das aber entgegen ersten Berichten offenbar nicht direkt getroffen wurde. Zeugen sagten, sie hätten eine Explosion gehört. Der Armee-Rundfunk meldete den Einschlag einer Rakete in dem Wirtschaftszentrum, zu Schaden gekommen sei aber niemand.

Palästinenser-Gruppe bekennt sich zum Beschuss

Die militante Palästinenser-Gruppe Islamischer Dschihad bekannte sich zu dem Beschuss. Doch ein israelischer Militär-Sprecher dementierte wenig später, dass die Stadt getroffen worden sei. Aus Sicherheitskreisen verlautete, das Geschoss sei ins Meer gestürzt. Eine weitere Rakete habe ein unbewohntes Gebiet in einer Vorstadt von Tel Aviv getroffen. Verteidigungsminister Barak drohte nach dem Beschuss von Tel Aviv, „die andere Seite“ werde „den Preis für diese Eskalation“ zahlen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte, der Gaza-Einsatz könne auch noch ausgeweitet werden. Der Regierungschef ist mitten im Wahlkampf. Umfragen sehen ihn bei der Abstimmung am 22. Januar vorn.

In Israel wurden Reservisten einberufen und Truppen näher an die Grenze verlegt, offenbar in Vorbereitung einer Bodenoffensive. Ziel der Offensive soll die Zerstörung der Raketenstellungen der Hamas sein. Nachdem bei einem palästinensischen Raketenangriff aus dem Gazastreifen im Süden Israels drei Menschen getötet worden waren, hatte die Regierung in Jerusalem ein entschiedenes Vorgehen gegen militante Palästinensergruppen angekündigt.

Israelische Transporter bringen Panzer und Soldaten ins Grenzgebiet

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In Israel waren am Donnerstagabend mindestens ein Dutzend Transporter zu sehen, auf denen Panzer in das Grenzgebiet gebracht wurden. Busse mit Soldaten waren auf dem gleichen Weg. Verteidigungsminister Ehud Barak erklärte, er habe die Streitkräfte ermächtigt, Reservisten einzuberufen. Bis zu 30.000 Soldaten könnten mobilisiert werden, erklärte die Armee. Das seien Vorbereitungen für eine Bodenoffensive im Gazastreifen, eine Entscheidung sei aber noch nicht gefallen, hieß es.

Angesichts der anhaltenden Raketenangriffe aus dem Gazastreifen wurde eine Offensive aber immer wahrscheinlicher. Nach israelischen Angaben wurden am Donnerstag fast 150 Raketen auf Israel abgefeuert, einige reichten offenbar bis kurz vor Tel Aviv, wo es Luftalarm gab und die Menschen Deckung suchten. In der Stadt war eine Explosion zu hören, verletzt wurde aber niemand.

Mursi nennt israelische Aktion inakzeptabel

Inmitten der zunehmenden Spannung bezog Ägypten eindeutig Position. Präsident Mursi beorderte Ministerpräsident Kandil in den Gazastreifen. Er sollte dort am Freitag der radikalen Palästinenserorganisation Hamas die Unterstützung Ägyptens bekunden. Zuvor hatte Mursi schon angekündigt, dass er sich darum bemühen werde, die israelische Offensive gegen die Hamas zu stoppen. Er sprach dabei von einer inakzeptablen Aktion Israels. Am Mittwoch hatte Ägypten seinen Botschafter in Israel zurückgerufen, um gegen die israelischen Luftangriffe zu protestieren, bei denen bislang mindestens 13 Menschen getötet wurden.

Ägypten hatte 1979 einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen, der noch heute gilt. Doch die Hamas sieht sich seit der Machtübernahme der Islamisten in dem Land im Zuge des Arabischen Frühlings im Vorteil. Sie ist ein Ableger der in Kairo regierenden Muslimbrüder und setzt deshalb darauf, dass sich Mursi als mächtiger Verbündeter entpuppt. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas ist der erste wichtige Test für die Frage, wie ernst der Präsident seine Zusicherung nimmt, den Friedensvertrag nicht anzutasten. Die Muslimbrüder riefen für Freitag zu einem „Tag des Zorns“ in der arabischen Welt auf. Bereits am Donnerstag zündeten Demonstranten in Kairo und Alexandria israelische Flaggen an.

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Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte, er werde alles Notwendige tun, um sein Volk vor Angriffen zu schützen. Er zeigte sich entschlossen, die militanten Gruppen im Gazastreifen zerschlagen zu wollen. Er hoffe, die Hamas habe das verstanden, sagte er. Aus israelischen Regierungskreisen verlautete, die Streitkräfte stünden auch zu einer Bodenoffensive im Gazastreifen bereit, sollte dies als notwendig erachtet werden.

Internationale Sorge vor Ausweitung des Konflikts

Auf internationaler Ebene wuchs die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts. „Es ist notwendig, dass jetzt auf Deeskalation gesetzt wird, dass vor allen Dingen besonnen und umsichtig gehandelt wird“, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) am Rande eines Treffens von Außen- und Verteidigungsministern aus fünf EU-Ländern in Paris. Der Außenminister sprach von einer „außerordentlich gefährlichen Lage“. Es sei von „großer Bedeutung“, dass keine neue „Spirale der Gewalt“ entstehe.

In New York beriet der UN-Sicherheitsrat über die Lage. Ägypten forderte die USA auf, „die israelische Aggression zu stoppen“. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas brach eine Europareise ab und kehrte ins Westjordanland zurück.

US-Präsident Barack Obama hatte bereits kurz nach den Luftangriffen mit Netanjahu und Mursi gesprochen. Dabei habe Obama seine Unterstützung für das Recht Israels auf Selbstverteidigung bekundet, teilte das Weiße Haus am Mittwoch (Ortszeit) mit. Obama habe die Regierung in Jerusalem allerdings auch dazu aufgefordert, zivile Opfer bei dem Militäreinsatz zu vermeiden.

UN-Generalsekretär Ban rief beide Seiten zur Ruhe auf und verlangte die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Die Palästinenser forderten Hilfe von der internationalen Gemeinschaft.

Lehrer einer UN-Hilfsorganisation stirbt bei israelischem Luftangriff

Bei einem israelischen Luftangriff im Gazastreifen ist nach Angaben der Vereinten Nationen auch ein Lehrer einer UN-Hilfsorganisation getötet worden. Wie das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) mitteilte, kam Marwan Abu El Qumsan am Mittwoch ums Leben. Er war Anfang 50 und unterrichtete Arabisch an einer UNRWA-Schule in Dschabalia. Er sei am Mittwoch in der Nähe eines Ortes gewesen, der Ziel eines israelischen Luftangriffs war, hieß es. Wegen der Gewalt seien die UNRWA-Schulen im Gazastreifen vorübergehend geschlossen worden. (rtr/dapd/afp)