Berlin. Die Koalitionsparteien von Union und FDP haben in siebenstündigen Verhandlungen zentrale Streitpunkte ausgeräumt. Beschlossen wurde unter anderem die Abschaffung der Praxisgebühr zum 1. Januar und die Einführung des Betreuungsgelds zum August 2013. Die Bundesärztekammer begrüßt die Abschaffung der Praxisgebühr.

Die Praxisgebühr geht, das Betreuungsgeld kommt: Die Spitzen der schwarz-gelben Koalition haben bei ihrem mit Spannung erwarteten Gipfel nach rund achtstündigen Verhandlungen am frühen Montagmorgen in zentralen Streitfeldern eine Einigung erzielt.

Die Generalsekretäre von CDU, CSU und FDP teilten nach Abschluss des Koalitionsausschusses mit, dass die Haushaltssanierung oberste Maxime sein soll, verkündeten jedoch einige kostenintensive Projekte: Neben der Abschaffung der Zehn-Euro-Praxisgebühr und der Einführung des Betreuungsgelds sieht das siebenseitige Kompromisspaket zudem vor, zusätzlich 750 Millionen Euro für Verkehrsprojekte bereitzustellen.

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Dennoch soll der Bund die Schuldenbremse bereits 2013 einhalten und für 2014 einen Haushalt aufstellen, der - Sondereinflüsse herausgerechnet - ohne Defizit auskommt, betonte FDP-Generalsekretär Patrick Döring. "Alle anderen Beschlüsse folgen diesem Ziel." Damit werde klar, dass auch das umstrittenen Betreuungsgeld nicht auf Pump finanziert werde.

Union setzt Verbesserung bei Renten durch

Im Kampf gegen die Altersarmut verständigte sich die Koalition darauf, dass aus Steuermitteln eine sogenannte "Lebensleistungsrente" finanziert wird. "Dafür werden wir die Bewertung der Beitragszeiten für Frauen, die Kinder erzogen und/oder Pflegeleistungen erbracht haben, für Erwerbsgeminderte und Menschen mit geringem Einkommen verbessern", heißt es in dem Beschluss.

Damit soll für Geringverdiener eine Rentenanwartschaft knapp über der Grundsicherung erreicht werden, wenn sie mindestens 40 Jahre lang Rentenbeiträge gezahlt und privat vorgesorgt haben. Details wurden nicht vereinbart. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe betonte aber, dass mit diesem Arbeitsauftrag nun die genaue Förderung noch in dieser Legislaturperiode beschlossen werden soll.

Die schwarz-gelbe Koalition hat in der Verhandlungsrunde im Kanzleramt von Sonntag auf Montag einige Streitfragen abgeräumt. Die wesentlichen Beschlüsse im Einzelnen:

Die Praxisgebühr wird zum 1. Januar 2013 abgeschafft.

Das Betreuungsgeld kommt zum 1. August 2013: Bis zum 31. Juli 2014 beträgt es 100 Euro pro Monat, ab dem 1. August 2014 dann 150 Euro pro Monat. Das Geld ...

... kann zur privaten Altersvorsorge und zum Bildungssparen genutzt werden. Dann gibt es einen zusätzlichen Bonus ...

... von 15 Euro pro Monat. Das Bildungssparen soll zur Finanzierung einer Ausbildung oder eines Studiums genutzt werden.

Der Bundeshaushalt soll 2014 ohne strukturelles Defizit aufgestellt werden.

Für Verkehrsprojekte stellt der Bund im kommenden Jahr 750 Millionen Euro mehr bereit.

Zur Bekämpfung von Altersarmut soll es Leistungsverbesserungen bei der Rente für Geringverdiener geben, die jedoch nicht beitragsfinanziert, sondern mit Steuermitteln bezahlt werden. Die Koalition spricht von einer "Lebensleistungsrente".

Der Bundeszuschuss für den Gesundheitsfonds wird 2013 zusätzlich um 500 Millionen Euro und 2014 um zwei Milliarden Euro gekürzt. Hintergrund...

... ist das milliardenschwere Finanzpolster des Fonds. Kreditanstalt für Wiederaufbau: Das bisherige Thesaurierungsgebot soll aufgehoben werden, erstmals ...

... mit Wirkung für das Ergebnis des Geschäftsjahres 2013. D.h. Gewinne können ausgeschüttet werden.

Die Bundesregierung will prüfen, inwieweit es finanzielle Spielräume gibt, Müttern mit mehreren Kindern, die vor 1992 geboren worden sind, zusätzliche ...

... Entgelte zu ermöglichen. Die Koalition spricht sich für eine Reform des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG) aus. Dazu sollen bis März 2013 "Ergebnisse" vorliegen.

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"Das Bundesarbeitsministerium begrüßt das Ergebnis der Koalitionsrunde", erklärte ein Sprecher. "Der bereits seit August in der Ressortabstimmung befindliche Gesetzentwurf kann zügig angepasst und noch in diesem Monat ins Kabinett gebracht werden."

Nur prüfen will die Bundesregierung, ob Mütter besser gestellt werden können, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Dies hatte vor allem die Frauen-Union gefordert. Eine höhere Anrechnung der Kindererziehungszeiten gilt aber als teuer.

CSU erhält Betreuungsgeld - FDP ihre Bildungskomponente

CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt hob vor allem die Einigung auf das von der CSU gewünschte Betreuungsgeld hervor. "Das Betreuungsgeld wird zum 1. August nächsten Jahres kommen. Wir werden es diese Woche noch in Bundestag in dritter Lesung beschließen", kündigte er an. Mit der Verschiebung des ursprünglich vorgesehenen Starts Anfang 2013 fallen im ersten Jahr zunächst weniger Kosten als erwartet an. Zudem werden bis zum Juli 2014 zunächst 100 Euro für ein- und zweijährige Kinder gezahlt werden, für die Eltern keine staatlich geförderte Betreuungsmöglichkeit in Anspruch nehmen.

Ab dem 1. August 2014 soll der Satz dann auf 150 Euro steigen. Eltern, die statt der Barzahlung das Betreuungsgeld lieber in die Altersvorsorge oder das von der FDP nun durchgesetzte Bildungssparen nutzen wollen, erhalten einen weiteren Bonus von 15 Euro pro Monat. Das Betreuungsgeld soll zudem erst ab dem 15. Monat nach der der Geburt bezahlt werden, damit es keine Überschneidungen zu dem Elterngeld gibt, das 14 Monate lange gezahlt werden kann.

Versicherte sollen von Überschüssen der Krankenversicherung profitieren

Die FDP setzte gegen Widerstand der Unions-Fraktionsführung die Abschaffung der Praxisgebühr durch. Die Abgabe wird seit 2004 bei jedem ersten Arzt- sowie Zahnarztbesuch pro Quartal fällig. Durch die Abschaffung der Gebühr sollen die Versicherten von den Milliardenüberschüssen der gesetzlichen Krankenversicherung profitieren. Zudem soll Bürokratie in den Arztpraxen abgebaut werden. Die von der CSU geforderte Kürzung der Beitragssätze zur Krankenversicherung wird nicht kommen.

Die Koalition beschloss angesichts der Überschüsse im Gesundheitsfonds zugleich, dass der Bundeszuschuss im Jahr 2013 zusätzlich um 500 Millionen Euro und im Jahr 2014 um zwei Milliarden Euro gekürzt werden soll.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, begrüßt das von der schwarz-gelben Koalition in Berlin beschlossene Aus der Praxisgebühr. "Auch wenn es der Regierungskoalition bei diesem Handel eher um sich selber als die Versicherten ging, ist das Ergebnis gut", sagte Montgomery am Montag in Hamburg. Die Ärztekammer habe schon lange gefordert, die Praxisgebühr abzuschaffen, weil sie außer Bürokratie nichts gebracht habe.

Die Praxisgebühr war Montgomery zufolge ein Ärgernis für Patienten und Ärzte. Die eigentlich beabsichtigte steuernde Wirkung habe sich nicht realisiert. "Gut ist auch, dass die Versicherten nun wenigstens ein wenig von den vollen Konten der Krankenkassen profitieren", sagte der Bundesärztekammer-Präsident.

Zähes Ringen um Kompromisse 

Dies soll zur Haushaltskonsolidierung beitragen, die nach dem Koalitionstreffen von FDP-Generalsekretär Döring zur Hauptaufgabe der Regierung erklärt wurde. Um die von der CSU durchgesetzten zusätzlichen 750 Millionen Euro für Verkehrsinfrastruktur im Jahr 2013 mitzufinanzieren, beschloss die Koalition zudem, dass die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) künftig Gewinne an den Bund ausschütten soll.

Zudem strebt die Koalition bereits für 2014 einen strukturell ausgeglichenen Haushalt an. Dieser wird um Konjunktureinflüsse und Einmalereignisse bereinigt und kann deswegen bei Null liegen, selbst wenn der Bund neue Schulden aufnimmt. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sieht dies erst für 2016 vor.

Alle drei Generalsekretäre betonten, dass die Koalition mit den Beschlüssen ihre Handlungsfähigkeit bewiesen habe. Das Treffen galt knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl als letzte Möglichkeit für das Regierungsbündnis, in dieser Legislaturperiode noch größere Projekte auf den Weg zu bringen. Zusätzlich wurde festgelegt, dass bis März 2013 die Ausnahmetatbestände beim Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) geprüft werden sollen.

Die als zerstritten geltende schwarz-gelbe Koalition stand unter erheblichem Druck, ihre Einigungsfähigkeit zu beweisen. Dies gilt insbesondere für die im Dauer-Umfragetief steckende FDP unter ihrem Vorsitzenden Philipp Rösler. Vor der wichtigen Wahl in Niedersachsen im Januar hofft sie auf eine Trendwende. Die SPD hatte schon im Vorfeld von einem Kuhhandel in der Koalition gesprochen, um Wahlgeschenke auf Kosten der Steuerzahler verteilen zu können - und legte nun nochmal nach.

SPD-Chef Gabriel kritisiert Beschlüsse 

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte dem Hörfunksender NDR Info am Montag, es sei eine Katastrophe, dass die FDP dem Betreuungsgeld zugestimmt habe. Eltern bekämen Geld dafür, dass sie ihre Kinder nicht in den Kindergarten bringen. Die FDP habe früher etwas von Bildung verstanden, sagte der SPD-Vorsitzende mit Blick auf das Ja der Liberalen zu dem vor allem von der CSU gewollten Projekt.

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Als Verlierer sieht Gabriel die Rentner: "Es ist ein ziemlicher Zynismus zu sagen, wir erfinden eine Lebensleistungsrente für Menschen, die mehr als 30 oder 40 Jahre gearbeitet haben, und die liegt dann nur 10 oder 15 Euro oberhalb der Sozialhilfe". Die Koalitionäre hatten sich auf Leistungsverbesserungen bei der Rente für Geringverdiener verständigt, die jedoch nicht beitragsfinanziert, sondern mit Steuermitteln bezahlt werden sollen.

Gabriel rügte: "Ich finde es unfassbar, dass die klugen Leute aus der CDU und die FDP, - da gibt es Menschen, die genau wissen, dass das Wahnsinn ist, - dem zugestimmt haben."

"Gefährliche Abwege" - Kritik von Sozialverbänden

Auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier kritisierte die Ergebnisse des Koalitionsgipfels: "Das war ein schwarzer Sonntag für die Koalition! Dieser Koalitionsausschuss war der Offenbarungseid für die Regierung Merkel", erklärte Steinmeier am Montagmorgen in Berlin.

[kein Linktext vorhanden]Sozialverbände übten Kritik an den nächtlichen Gipfelbeschlüssen. "Waren die Pläne zum Betreuungsgeld bisher lediglich teurer Unsinn, so begibt sich die Bundesregierung mit ihrem Bildungs-Riester nun auf gefährliche bildungspolitische Abwege. Erstmalig werden Bildungschancen von privater Vorsorge abhängig gemacht", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Auch bei den Rentenbeschlüssen handele es sich bestenfalls um politisches Blendwerk. "Altersarmut wird mit diesem 10-Euro-Placebo auf gar keinen Fall verhindert werden. Die Lawine rollt weiter auf uns zu."

(rtr/afp/dapd)