Washington. “Sandy“ rast auf die US-Ostküste zu - und Amerika bangt: Werden die noch nie dagewesenen Schutzmaßnahmen ausreichen, um die schlimmsten Schäden zu verhindern? Meteorologen und Katastrophenschutz-Experten erwarten einen “Jahrhundert-Hurrikan“ mit enormem Zerstörungspotenzial.
Mit einem mulmigen Gefühl geht Amerika zu Bett, mit bangem Blick wacht es wieder auf und hofft, dass sich die zerstörerische Kraft des Hurrikans „Sandy“ wenn
nicht in Luft auflösen, so doch in Grenzen halten wird. Erst im Laufe des
Dienstags wird sich herausstellen, wie gravierend der Sturm den Lebensrhythmus
von rund 60 Millionen Menschen unterbrechen wird, die in einem Korridor von 1500
Kilometern zwischen Virginia und Maine leben. Und ob die zum Teil noch nie
dagewesenen Präventivmaßnahmen das Schlimmste verhindern können, wenn das
Unwetter mit Winden von zuletzt gemessenen 150 km/h und unaufhörlichem Regen
seine Wut an der Nordostküste der Vereinigten Staaten auslässt.
Die Ouvertüre am
Montag gab jedenfalls keinen Grund aufzuatmen. „Sandy“, in der Karibik für über
60 Tote verantwortlich, war noch gar nicht richtig an Land angekommen und doch
bereits in den Geschichtsbüchern. „Jahrhundert-Hurrikan“, sagte Louis Uccellini,
Experte der Nationalen Ozeanischen und Atmosphärischen Behörde (NOAA), am
Montagnachmittag bei einem Blick auf die Satellitenbilder, „so etwas Gewaltiges
habe ich noch nicht gesehen“. Anhand von Computer-Simulationen illustrierten die Experten das
Zerstörungspotenzial des sich über 1300 Kilometer erstreckenden Wirbelsturms auf
einer Skala von 0 bis 6. „Sandy“ liegt bei 5,8.
10 Millionen Menschen müssen mit Stromausfällen rechnen
„Furchteinflößend, mehr fällt mir dazu nicht ein“, sagte der Forscher Jeff
Masters. Al Roker, einer der beliebtesten US-Fernseh-Wettermänner, pflichtete
vom Strand in New Jersey aus bei: „Dieser Sturm wird heftiger als Irene im
letzten Sommer.“ P.S. Gleichnamiger Hurrikan erzeugte 2011 Schäden von drei
Milliarden Dollar und forderte rund 20 Tote.
Der
Katastrophen-Nachrichten-Ticker der Nachrichten-Sender, die am Montag alle nur
ein Thema kannten, spuckte im Lauf des Montags bei stündlichem stärker werdendem
Regen immer mehr Superlative aus: 60 Millionen Menschen werden den Sturm
abbekommen.Knapp 10 Millionen müssen mit tagelangem Stromausfall rechnen; in New Jersey und
angrenzenden Landstrichen waren es am Montag bereits 120 000. Kraftwerke und
Öl-Raffinerien zwischen Pennsylvania und Massachusetts könnten den Betrieb
einstellen.
Fluggesellschaften streichen 10.000 Flüge
Kraftwerke und Öl-Raffinerien zwischen
Pennsylvania und Massachusetts könnten den Betrieb einstellen. Neun
Bundesstaaten haben den Notstand ausgerufen. Fluggesellschaften haben bis zum
Abend knapp 10 000 Flüge gestrichen. Auf den Flughäfen zwischen Boston und
Washington ging nichts mehr. Die führende Eisenbahngesellschaft Amtrak stellte
praktisch im gesamten Nordosten den Betrieb ein.
In New York, Philadelphia,
Washington, Boston, Baltimore und anderen Städten blieben Schulen, Universitäten
und öffentliche Verwaltungsstellen geschlossen, ein Teil wurde als
Notunterkünfte vorbereitet. Supermärkte, Schuhgeschäfte, Buchhandlungen,
Zeitungskiosken, Postämter, Restaurants – in vielen Städten dicht. An der Wall
Street in New York wurde mit Sandsäcken (gegen die erwarteten Flutwellen von
3,50 Meter an der Südspitze Manhattans) gehandelt. Die Börse selbst blieb zum
ersten Mal seit 27 Jahren geschlossen.
Geisterstadt-Atmosphäre in Washington
Knapp 400.000 Bürger wurden zudem im Big
Apple zwangsevakuiert. Und der Stolz der Stadt, die U-Bahn mit ihren 468
Stationen und 6,5 Millionen Passagieren täglich, blieb verwaist. Genauso der
Hauptsitz der Vereinten Nationen – wetterbedingte Sitzungspause. US-Präsident
Obama und sein Herausforderer Mitt Romney stellten den Wahlkampf vorübergehend
ein. Unterdessen bekamen die Rettungskräfte einen ersten Eindruck von dem, was
ab Dienstag drohen könnte. Die US-Küstenwache brachte mit Hubschraubern 14 von 16
Besatzungsmitgliedern des Dreimasters "Bounty" in Sicherheit. Zwei Männer wurden
bis zum Abend noch vermisst.
Geisterstadt-Atmosphäre auch in
Washington. Wo sonst im Zentrum von morgens 0 bis abends 9 Dauerstau herrscht,
hielten vereinzelt pakistanische Taxifahrer Ausschau nach Fahrgästen.
Fehlanzeige. Die Hauptstadt blieb zuhaus. Ausnahme: Chinatown. Die
unerschütterlichen Asiaten, eingepackt in gelbe Regen-Overalls, hielten weiter
Obst, Gemüse, Blumen und Pils im Sechserpack feil. Umsätze? Nicht der Rede wert.
Ufernahe Wohnblöcke aus Angst vor "Sandy" zwangsgeräumt
Weil U-Bahn und Nahverkehrszüge im sechs Millionen Einwohner zählenden
Ballungsraum zwischen Maryland und Virginia in den Depots blieben, war das Auto
das einzige Verkehrsmittel. Bei Polizeikontrollen riet die Ordnungsmacht mit
eindringlicher Stimme: „Hey, Mann. Sei nicht dumm, die Winde sind unberechenbar.
Fahr heim und warte ab.“
Ufernahe Wohnblöcke am Potomac-Fluss und weiter draußen
an der Chesepeak Bay wurden zwangsgeräumt. Im kleinen Einkaufszentrum
Springvalley im Nordwesten kauften pitschnass gewordene Anwohner die letzten
Vorräte an Taschenlampen, Batterien, Trinkwasser, Brot und Konserven auf. Im
„Waghals“, einem bekannten Lunch-Treffpunkt, den regelmäßig hohe CIA-Beamte
ansteuern, waren bereits am Mittag die Regale fast leer. „So was gab’s noch
nie“, sagte Verkäufer Bruce. Was auffiel: Washingtonians, gestählt durch Stürme
und Erdbeben, reagieren für gewöhnlich mit beißendem Spott auf
Untergangsszenarien, wie sie seit Freitag von den Medien in den krassesten
Farben ausgemalt wurden. Diesmal herrschte betretenes Schweigen. Die „Urgewalt
dieses Sturms verschlägt mir die Sprache“, sagt die 34-jährige Suzanne.
Angst vor Jahrhundertsturm
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Obama warnt: "Der Sturm wird uns lange und schwer beschäftigen"
Im
Stundentakt meldeten sich im Fernsehen Gouverneure der betroffenen
Küsten-Bundesstaaten zu Wort, um die Anspannung in der Bevölkerung nicht
abreißen zu lassen. Virginias Quasi-Ministerpräsident Bob McDonnell, ein
gewöhnlich erzcool auftretender Republikaner, bat inständig darum, dem Rat der
Polizei und Behörden zu folgen. „Ich bin 20 Jahre in führender Position, aber
dieser Sturm schlägt alles. Bitte nehmen sie das Monster nicht auf die leichte
Schulter.“
Obama reihte sich am Mittag mit einer kurzen Ansprache in den Kreis der Mahner
ein. Der Präsident machte seinen Landsleuten wenig Hoffnung auf ein schnelles
Ende. „Der Sturm wird uns lange und schwer beschäftigen“, sagte Obama und
prophezeite langwierige Stromausfälle und Aufräumarbeiten. Energisch forderte er
die Bürger auf, den Anweisungen der lokalen Sicherheitskräfte zu folgen. Nur so
könne das Risiko von Todesopfern gesenkt werden. In „schweren Stunden“ wie den
kommenden werde Amerika tun, was es immer tut, wenn es wichtig wird: „Wir stehen
das zusammen durch.“
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