Essen. 1990 kamen fast 440 000 Menschen aus Krisenländern nach Deutschland. 2006 stellten gerade noch 28 000 einen Antrag auf Asyl. Seit fünf Monaten wird es wieder eng in den Aufnahmestellen. Für NRW sind Dortmund und Bielefeld die zentralen Anlaufstellen für Neuankömmlinge. Seit dem Sommer herrscht hier drängende Enge.

Ich bitte um Asyl: Hunderttausende haben diesen Satz nach 1990 im gerade wiedervereinigten Deutschland buchstabiert. 1992 nahmen 438 000 Menschen das Grundrecht des Artikels 16 in Anspruch, der politisch Verfolgten die Aufnahme sichert. 16 Jahre später, nach verschärften Gesetzen, war mit 28 000 Anträgen ein Tiefstand erreicht. Jetzt kippt die Entwicklung erneut. Seit drei Jahren steigen die Zahlen an, seit August dieses Jahres besonders stark.

In Dortmund zum Beispiel fehlt es am vielem: Schlafplätze und Toiletten für die Neuankömmlinge, Verpflegung, Übersetzer, Betreuer.

Die Anzeichen sind für alle sichtbar. Erschöpfte Frauen mit einem frierenden Baby im Arm; hungrige Kinder und Erwachsene; Familien, deren ganze Habe einen alten Koffer füllt: Es sind Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien, Irak, Afghanistan geflüchtet sind oder vor der Armut in den Krisenländern Südosteuropas.

Die Entwicklung der Asylbewerber-Zahlen seit 1995
Die Entwicklung der Asylbewerber-Zahlen seit 1995

Seit einigen Monaten warten viele vor den Türen der zentralen „Erstaufnahmestelle“ für Asylsuchende in Dortmund-Hacheney. Eigentlich sollen hier in drei bis fünf Tagen die Formalitäten erledigt werden: Die Befragung zu den Asylgründen durch Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die medizinische Untersuchung und erste Versorgung – bevor es weiter geht in Richtung neue Heimat. Oder zügig zurück in die alte.

Zwei Ausweichquartiere sind überfüllt

Dieses geordnete Verfahren ist in Hacheney wie auch im kürzlich eröffneten Ausweichquartier Dortmund-Derne seit Wochen nicht mehr möglich. Täglich treffen hier mehr Flüchtlinge ein, als es Betten gibt. Anwohner beobachten immer wieder, dass Kinder und Erwachsene viele Stunden mit ihren Koffern und Taschen vor den Türen lagern; es fehlen Toiletten, ausreichende Verpflegung, Übersetzer und praktische Hilfen für die Menschen.

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Unter den Nachbarn beider Einrichtungen wächst der Ärger über Lärm und Müll in Vorgärten und auf den Straßen. Aber auch die Hilfsbereitschaft: so reichen Anwohner Müttern und Kindern immer wieder Getränke und Essen. Im Sommer versorgten sie die in der Hitze ausharrenden Flüchtlinge mit Wasser.

Seit Mittwoch gibt es im Dortmunder Norden ein weiteres Not­lager: Feuerwehr und Rot-Kreuz- und Johanniter-Unfallhelfer betreuen weitere rund 300 Erwachsene und Kinder in einer Turnhalle. Für ein, zwei Tage – dann müssen die Asylbewerber weiter.

Wie viele Asylbewerber kommen derzeit nach Deutschland?

Von Januar bis August wurden bundesweit 40 294 Asylanträge gestellt – 25,3 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Seit Mai gab es sprunghafte Steigerungen.

In Nordrhein-Westfalen wurden im August 1349 Erstanträge gestellt, knapp ein Drittel (30 Prozent) mehr als im August 2011.

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Wo liegen die Ursachen?

Natürlich besonders in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen der syrischen Regierung und den Rebellen. In den ersten acht Monaten des Jahres 2012 flohen 776 Syrer vor der Gewalt allein nach NRW. Im gesamten Jahr 2011 waren es 743 gewesen. Auf den Plätzen zwei, drei und vier der Herkunftsländer liegen Mazedonien, Afghanistan und Serbien. „Bei den Antragstellern aus Serbien und Mazedonien handelt es sich überwiegend um Menschen, die der Volksgruppe der Roma angehören“, so das Bundesamt für Migration in Nürnberg. 1878 Serben und Mazedonier suchten im Jahr 2011 Asyl in Deutschland; von Januar bis August kamen 1598.

Warum kommen die Roma?

Sie fliehen vor Armut und Diskriminierung. Rund um die serbische Hauptstadt Belgrad leben sie zum Beispiel in mehreren ­Lagern, in denen das Überleben im Winter nicht gesichert ist. „Oftmals spielen in den Anhörungen Diskri- minierungs­erlebnisse sowie die eigene wirtschaftliche Situation eine ­Rolle“, so die Asylbehörden.

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Haben die steigenden Flüchtlingszahlen zu tun mit höheren monatlichen Zahlungen an Asylsuchende, die das Bundesverfassungsgericht im Juli per Urteil erzwungen hat?

20 Jahre lang erhielten Flüchtlinge in Deutschland nur einen stark verminderten Hartz-IV-Satz (150 Euro), jetzt gilt für sie der volle Satz (bis zu 370 Euro). Ob dies eine lockende Wirkung hat, wird vom Bundesamt „weder ausgeschlossen noch bestätigt“.

Hat jeder Antrag auf Asyl Erfolg?

Kein Syrer wird abgelehnt; der Anspruch auf politisches Asyl ist durch die Lage im Herkunftsland begründet. Das gilt meist auch für Afghanen. Anträge von Serben und Mazedoniern dagegen „sind bis auf Einzelfälle aussichtslos“, so das Bundesamt. Das Verfahren bis zur Entscheidung über den Antrag kann bis zu 18 Monate dauern.

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Wie werden die Bundesländer mit dem Zustrom fertig?

Eine heikle Frage. Bund, Länder und Gemeinden wurden im Frühsommer von der Entwicklung überrascht. Alte Bewerberheime waren längst geschlossen, nun kommt es zu drangvoller Enge in den beiden Erstaufnahmeeinrichtungen Bielefeld und Dortmund. In Dortmund sind rund 800 Menschen notdürftig untergebracht, wo Platz für 650 ist. Auch andere Kommunen mieten neue Räume an. „Die Reserve ist schnell ausgeschöpft“, hat Duisburg schon im Sommer gewarnt.

Gibt es Abhilfe?

21 Prozent der in Deutschland eintreffenden Asylbewerber nimmt NRW auf und verteilt sie auf die Kommunen im Land. Das Innenministerium will in Neuss für zwei Jahre eine weitere Erstaufnahme mit 500 Plätzen einrichten. Dort will man eine ehe­malige psychiatrische Klinik nutzen. Im sauerländischen Hemer sind 100 zusätzliche Plätze geplant.