Washington. Mitt Romney schickt einen wirtschaftsliberalen Katholiken ins Rennen: Der 42-jährige Kongressabgeordnete Paul Ryan geht an der Seite des designierten republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den Wahlkampf und soll im Falle eines Sieges Vizepräsident der USA werden.
Norfolk. Auf der „USS Wisconsin“, einem musealen Schlachtschiff der Navy, das in Norfolk/Virginia an der amerikanischen Ostküste vor Anker liegt, hat Mitt Romney am Wochenende seinen „Sozius“ für das Rennen um das Weiße Haus präsentiert. Der republikanische Präsidentschafts-Kandidat (66) und sein Vize-Aspirant (42) sind ein Duo, das sich versteht und auf der Bühne fast wie Vater und Sohn wirkt. Aber das Gespann geht mit erheblichen Risiken auf die letzte Etappe bis zum Wahltag am 6. November. Ein Überblick:
Wer ist Paul Ryan?
Der Rechtsanwalts-Sohn, geboren am 29. Januar 1970, stammt aus einem einflussreichen irischen Familien-Clan, der über viele Jahrzehnte in Janesville/Wisconsin mit den Ton angibt. Sein Ur-Großvater Patrick startete 1884 mit Eseln eine Firma, die Bahngleise verlegte. Heute ist Ryan Inc. eines der landesweit größten Erdbau-Unternehmen. Die 64 000 Einwohner zählende Kleinstadt im Südosten des Bundesstaates ist seit 42 Jahren Heimat des studierten Politik- und Wirtschaftswissenschaftlers, der mit 19 als Praktikant auf Capitol Hill anfing und im Alter von 28 Jahren zum ersten Mal in den Kongress in Washington gewählt wurde. Ryan, ein gläubiger Katholik, musste als 16-Jähriger einen Schicksalsschlag verkraften: er fand seinen Vater tot im Bett – Herzinfarkt. Ein Schlüsselerlebnis, gestand er der Zeitschrift „New Yorker“: „Ich musste mich entscheiden. Entweder gehe ich unter in diesem Leben. Oder ich schwimme.“ Der Fitness-Fanatiker und passionierte Jäger ist mit der Steuer-Anwältin Janna Little verheiratet und hat drei Kinder: Liza, Charlie und Sam.
Wie tickt der Politiker Paul Ryan?
Leitsterne seines Denkens sind die Verfechter eines radikalen Wirtschafts-Liberalismus, wie ihn Friedrich Hayek und Milton Friedman propagierten. Ryans persönlicher Star ist Ayn Rand, deren Roman "Atlas Shrugged" (1957) bis heute zu den meistverkauften Büchern in Amerika zählt. Rand, eine russische Immigrantin, glorifizierte darin die Ideologie des Egoismus und sah den Staat als Wurzel allen Übels: "Die Verfolgung des rationalen Eigeninteresses und des eigenen Glücks ist der höchste moralische Zweck des Lebens."
Wie erklärt sich Ryans steile Karriere?
Er ist Spezialist, kein Generalist. Als Vorsitzender des Haushalts-Ausschusses im Repräsentantenhaus gehört Ryan spätestens seit 2010 zu den ideologischen Taktgebern der Republikaner. Seine Programmatik, gegossen in etliche Budget-Entwürfe, wird von weiten Teilen der Partei als alternativlos verstanden. Obwohl Ryan ein Zahlen-Fetischist ist, der seine Argumente gern mit Hilfe von Powerpoint-Präsentationen entwickelt, kann er seine Vorstellungen allgemeinverständlich formulieren. Seine politisch Andersdenkende öffentlich nie herabsetzende Art hebt ihn in Washington aus der Menge der Brunnenvergifter heraus. Trotzdem: 54 % der Amerikaner, so der Sender CNN, kennen Ryan (noch) nicht.
Was ist das Herzstück seiner Politik?
Auf Ryan geht der umstrittene Plan zurück, die staatliche Krankenversicherung (Medicare) für alle, die jünger als 55 Jahre sind, zu privatisieren. Versicherungsberechtigte sollen nur noch staatliche Zuschüsse erhalten und sich selber „auf dem Markt“ eine private Krankenversicherung kaufen. Ob das die weltweit im Vergleich teuersten Arzt-Rechnungen deckt, wird von unabhängigen Experten bezweifelt. Das staatliche Gesundheits-Programm für Arme (Medicaid) will Ryan auflösen. Den Bundesstaaten sollen Sockelbeträge zugewiesen werden, zur individuellen Verwendung.
Anders als bei Obamas Gesundheitsreform würde die medizinische Versorgung in Amerika wieder zum Flickenteppich, inklusive Sozial-Risiko. Avisiertes Einsparvolumen für die Bundesebene allein hier: rund drei Billionen Dollar binnen zehn Jahren. Hilfsprogramme wie Essensmarken für Arme, Stipendien für Studenten oder Familienplanung sollen ebenfalls gekappt werden, auf keinen Fall aber der Etat für das Militär. Außerdem will Ryan den Höchstsatz der Einkommen- und Unternehmensteuer von 35 auf 25 % senken und Steuernachlässe für Reiche verlängern. Noch weitgehender sind Ryans Vorstellungen beim Umbau des staatlichen Renten-System „Social Security“. Er will Zahlungen nach Bedürftigkeit ausrichten und nicht mehr nach eingezahlten Beiträgen während der Erwerbstätigkeit.
Was spricht für die Personalentscheidung?
Mitt Romney, in den eigenen Reihen als wenig prinzipienfest beäugt, bedient mit Ryan die Sehnsüchte der Tea-Party-Extremisten in der republikanischen Partei. Sie verlangen seit Monaten nach einem „harten Hund“, der kompromisslos für ihr Kern-Thema streitet - weniger Staat und weniger Schulden - und es in praktische Politik umsetzt. Ryan ist das Kontrastprogramm zum hölzernen Romney. Die Entscheidung wird die Stammklientel der „Grand Old Party“ stark mobilisieren. Eine „Nummer sicher“-Personalie (etwa der frühere Gouverneur von Minnesota, Tim Pawlenty, oder Senator Rob Portman aus Ohio) hätte das nicht leisten können.
Wo liegen die Risiken?
Die wichtigste Aufgabe des „VP wäre es, im Krisen- oder Todesfall von heute auf morgen Präsident zu werden. Ryan ist sehr jung und hat keinerlei weltpolitische oder administrative Erfahrung. Obamas Vize Joe Biden ist ein seit Jahrzehnten versierter Außenpolitiker. Ryan ist zudem ein Gewächs jenes Machtgeflechts in Washington, das in der Bevölkerung wegen der allgegenwärtigen Blockade zwischen Demokraten und Republikanern nur noch Verachtung erntet. Mitt Romney versuchte sich mit Verweis auf seine frühere Manager-Tätigkeit bisher exakt davon abzugrenzen.
Wird Ryan Wähler verprellen?
Unabhängige, liberale und vor allem ältere und sozial schwache Wähler sowie Angehörige der Minderheiten von Afro-Amerikanern bis Latinos dürfte die Personalie abschrecken. Sie haben von Ryans rabiatem Spar-Konzept, das nach Analyse parteiübergreifender Denkfabriken zu über 60 % das untere Drittel der Gesellschaft träfe, kaum Gutes zu erwarten. Das kann in umkämpften „Schlachtfeld-Staaten“ wie Ohio, Virginia, Pennsylvania und Florida Stimmen kosten.
Wer – außer den Demokraten – kritisiert Ryan?
Kritiker von Ryans Sozial- und Gesundheitspolitik, die Präsident Obama als „kaum verschleierten Sozial-Darwinismus“ bezeichnet hat und die laut Umfragen bisher 60 % der Amerikaner ablehnen, können sich auf die US-Bischofskonferenz berufen. Die katholischen Würdenträger hatten zuletzt lautstark vor Ryans Sparkonzept gewarnt und gefordert, dass um Sozialschwache und Ältere ein „Schutzring“ gezogen werden müsse. Newt Gingrich, bis zum Frühjahr selbst Kandidat für das republikanische Präsidentschaftsticket gewesen, unterstellte Ryan sogar „rechtsextremen sozialen Strukturveränderungswillen“. 90 Professoren und Priester der berühmten Georgetown-Universität in Washington warfen Ryan in einem offenen Brief vor, die katholische Lehre für eine inhumane Sparpolitik zu missbrauchen.