Berlin. Das Bundestagswahlrecht ist verfassungswidrig - und das klare Urteil der Karlsruher Richter eine Blamage für die schwarz-gelbe Koalition. Union und FDP haben mit einer Mischung aus Fahrlässigkeit, Ignoranz und Egoismus gehandelt. Dafür müssen sie nun die Verantwortung tragen. Ein Kommentar.

Die Blamage ist perfekt. Zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe das Wahlrecht für den Bund verworfen. Den schwarz-gelben Reparatur-Versuch haben die Richter kaum verblümt als Murks abgelehnt: Das ist ein einmaliger Vorgang, ein beispielloses Versagen des Parlaments, für das Union und FDP die alleinige Verantwortung tragen.

Hier geht es nicht um ein beliebiges Spezialgesetz, hier geht es um den Kern der Demokratie, um die Gleichwertigkeit von Wählerstimmen und die Chancengleichheit der Parteien. Ein Jahr vor der Bundestagswahl steht die Republik nun ohne gesetzliche Grundlage für die Abstimmung da, weil die schwarz-gelbe Koalition mit einer Mischung aus Fahrlässigkeit, Ignoranz und Egoismus erst zu spät, dann unzureichend handelte.

Parlament hätte sich von den Überhangmandaten trennen sollen

Ein Skandal mit Anlauf: Schon einmal hatte das Gericht das Wahlgesetz für verfassungswidrig erklärt, wegen eines merkwürdigen Effekts, der dazu führen kann, dass zusätzliche Stimmen für eine Partei nicht mehr Sitze bringen, sondern weniger. Drei Jahre hatte das Gericht der Politik Zeit für die Reparatur gegeben – doch der Bundestag ließ die Frist verstreichen, weil sich die schwarz-gelbe Koalition lange nicht einigen konnte.

Das einfachste wäre gewesen, das Parlament hätte sich von den Überhangmandaten, die den verzerrenden Effekt erst möglich machen, getrennt. Doch davon wollte die Union, die von den Zusatz-Sitzen besonders profitiert, nichts wissen. Aus durchsichtigem Eigennutz hat sie eine Minireform durchgepeitscht, die das Kernproblem nicht löst. Die Koalition schlug alle Bedenken in den Wind – und nahm dafür sogar in Kauf, dass ein Wahlgesetz erstmals ohne die Zustimmung der Opposition beschlossen wurde. Im Ergebnis hätte die Zahl der Überhangmandate sogar noch zunehmen können, befördert übrigens auch durch die Zersplitterung der Parteienlandschaft – durchaus denkbar, dass bald eine Koalition mit der Minderheit der Wählerstimmen die Regierung gebildet hätte.

Das undurchschaubare Wahlrecht solle grundsätzlich reformiert werden

Dem hat das Gericht nun einen Riegel vorgeschoben, die Zahl der Überhangmandate muss begrenzt werden. Das Urteil ist gut begründet, der Schaden aber enorm: Was, wenn die Koalition demnächst an der Euro-Rettung zerbricht und der Bundespräsident Neuwahlen anordnet? Die Richter müssten zur Not selbst ein Wahlrecht anordnen – welche Blamage für den Gesetzgeber.

Deshalb gibt es nur einen vernünftigen Weg: Die Koalition muss ohne lange Debatten ihr Scheitern eingestehen, sofort auf die Opposition zugehen und mit ihr zügig ein neues Gesetz aushandeln. Die Zahl der Überhangmandate einzugrenzen, die Vorgaben des Gerichts einzuhalten, ist gesetzestechnisch kein Problem. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch.

Zu prüfen wäre allerdings auch, ob das Wahlrecht nicht demnächst grundsätzlich reformiert muss. Es ist so kompliziert und undurchschaubar, dass selbst Experten manche Feinheiten nur mit Mühe nachvollziehen können. Ein demokratisches Wahlrecht aber müsste nicht nur fair und gerecht, sondern auch für jedermann verständlich sein.