Karlsruhe. Das 2011 reformierte Bundestagswahlrecht ist verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verwarf am Mittwoch das von der schwarz-gelben Koalition geänderte Wahlrecht. Die Opposition macht sich über die erneute schlappe der schwarz-gelben Regierung lustig.
Das neue Wahlrecht für Bundestagswahlen ist verfassungswidrig und muss umgehend reformiert werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch in Karlsruhe entschieden. Das seit Dezember 2011 neu geregelte Verfahren der Sitzverteilung für den Bundestag verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie die Chancengleichheit der Parteien.
Der Zweite Senat gab damit Verfassungsklagen der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen sowie von über 3000 Bürgern statt. Damit fehlt die Rechtsgrundlage für Bundestagswahlen. (Az.: 2 BvE 9/11) Der Gesetzgeber muss nun das Wahlrecht so rasch neu gestalten, dass die Neuregelung für die kommende Bundestagswahl im Herbst 2013 gilt.
Jäger bezeichnet das Wahlrechtsurteil als "Armutszeugnis"
Ein "Armutszeugnis" für die Berliner Regierungskoalition nannte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlrecht. Darin hatten die Karlsruher Richter das erst vor wenigen Monaten von den Regierungsfraktionen im Alleingang durchgesetzte Bundeswahlgesetz in wesentlichen Teilen für nichtig erklärt. „Ein verfassungskonformes Wahlrecht ist das Fundament einer jeden Demokratie. Es ist beschämend für die Bundesregierung, dass Deutschland nach so kurzer Zeit und nur ein Jahr vor der Bundestagswahl wieder ohne gültiges Wahlgesetz da steht“, kritisierte Jäger gegenüber der WAZ Mediengruppe.
Laut Bundesverfassungsgericht ist vor allem die ungelöste Problematik sogenannter Überhangmandate mit den Vorgaben der Verfassung nicht vereinbar. „Ausgleichslose Überhangmandate verzerren den Wählerwillen“, erklärte Jäger. „Dass die Berliner Koalition gleichwohl unverändert an Überhangmandaten festhalten wollte, war alleine machtpolitischen Interessen geschuldet. Jetzt haben sie dafür die Quittung bekommen. Was wir brauchen, ist ein klares und faires Wahlrecht, das von einem breiten Konsens getragen wird“, erklärte Jäger. „Diesem Anspruch wurde das vorgelegte Gesetz in keiner Weise gerecht.“
Verfassungsrichter wollen Zahl der Überhangmandate begrenzen
Die bisherige Regelung lasse zu, dass Überhangmandate in einem Umfang anfallen, "der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt", befanden die Karlsruher Richter. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen. Bei der Bundestagswahl 2009 gab es 24 Überhangmandate, die alle an die Union fielen. Das Verfassungsgericht setzte nun selbst eine "zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten".
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Die Neuregelung war nach einem Urteil des Verfassungsgerichts von 2008 erarbeitet worden. Das Gericht hatte damals im Streit um das sogenannte negative Stimmgewicht eine Reform bis Juli 2011 verlangt. Im Dezember 2011 und damit fünf Monate später war das neue Wahlrecht dann in Kraft getreten. Die Regierungskoalition hatte die Gesetzesnovelle im Bundestag gegen die Opposition durchgesetzt, deren Vorschläge bei der Reform nicht zum Zuge kamen. Daraufhin klagten SPD und Grüne in Karlsruhe.
"Quittung" für die schwarz-gelbe Koalition
Die SPD sieht sich durch das Karlsruher Urteil bestätigt. Die schwarz-gelbe Koalition habe "die Quittung dafür bekommen, dass sie das Wahlrecht als Machtrecht missbraucht hat". Der parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sprach am Mittwoch in Berlin von einem "guten Tag für unsere Demokratie" und für die Bürger.
"Die Koalition muss jetzt reden. Ein erneuter Alleingang ist nicht mehr möglich. Wir stehen für schnelle Gespräche bereit", fügte Oppermann hinzu. Die SPD habe bereits im vergangenen Jahr einen Vorschlag für ein verfassungskonformes Wahlrecht gemacht. Die SPD-Fraktion gehörte zu den Klägern in Karlsruhe. "Gewonnen!", twitterte Oppermann unmittelbar nach Verkündung des Urteils.
FDP lobt das Urteil, Merkel nimmt es "mit Respekt" zur Kenntnis
Die FDP lobte das Urteil indes auch. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werde "in vielen Punkten Rechtssicherheit hergestellt", sagte der FDP-Bundestagsabgeordnete Stefan Ruppert. Das "bewährte deutsche Wahlrecht" bleibe in seinen Grundzügen erhalten. "Die Änderungswünsche des Gerichts sind technischer Natur und gut umsetzbar", sagte Ruppert. Die FDP-Fraktion werde alles dafür tun, dass das neue Wahlrecht noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl verabschiedet werden werde.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nahm die Entscheidung "mit Respekt zur Kenntnis". Vize-Regierungssprecher Georg Streiter fügte hinzu, das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung "Klarheit" geschaffen. Das Urteil müsse nun "sorgfältig und zügig geprüft" werden. Das Wahlrecht liege aber "in der Hoheit des Parlaments", fügte Streiter hinzu. Darüber müsse der Bundestag in eigener Zuständigkeit entscheiden. (rtr/dapd)