Berlin. . Am Mittwoch entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Reform des Wahlrechts. Bislang können Stimmenzuwächse zum Verlust von Sitzen führen. Das sogenannte “negative Stimmgewicht“ ist skurriles Problem – und eines, das die Politik offenbar nicht selbst in den Griff bekommt.

Schon wieder blickt die Berliner Politik mit Spannung einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entgegen: Ein Jahr vor der Bundestagswahl könnten die Richter am Mittwoch das Wahlgesetz zum zweiten Mal kippen. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann, dessen Fraktion eine der Klagen eingereicht hat, ist hoffnungsfroh: „Ich bin zuversichtlich, dass das Gericht die Überhangmandate für verfassungswidrig erklären wird.“ Tatsächlich hatten die Richter bei einer Verhandlung im Juni den Eindruck hinterlassen, sie hätten Zweifel am überarbeiteten Gesetz.

Bereits 2008 hatte das Gericht das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Ausgangspunkt: Die Überhangmandate, die entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach der Anzahl der eigentlich entscheidenden Zweitstimmen Sitze zustehen. Im Bundestag gibt es zu den regulär 598 Sitzen aktuell 22 Überhangmandate – alle kommen der Union zugute, bei früheren Wahlen hatte aber auch die SPD häufig profitiert.

Wer Stimmen hinzugewinnt, kann Sitze verlieren

Das Problem: Die Überhangmandate können zu dem bizarren Effekt führen, dass Parteien durch zusätzliche Stimmen Mandate verlieren. Dieses „negative Stimmgewicht“ hatten die Richter beanstandet. Doch nachdem sie das Wahlrecht verworfen hatten, dauerte die Korrektur lange: Erst Schwarz-Gelb nahm sich 2009 der Sache an, konnte sich wegen interner Streitigkeiten aber lange nicht auf einen Reformvorschlag einigen; Bemühungen um eine gemeinsame Lösung mit der Opposition, wie es bis dahin beim Wahlrecht üblich war, versandeten.

Nach dem von Schwarz-Gelb Ende 2011 beschlossenen Gesetz sollen die negativen Stimmeffekte künftig vermieden werden, die Überhangmandate aber erhalten bleiben. Doch das Ergebnis überzeugt nicht alle. 4500 Bürger haben Klage eingereicht, ebenso die Fraktionen von SPD und Grünen. Ihre Befürchtung: Die Überhangmandate nehmen mit dem neuen Gesetz eher noch zu und damit auch Verschiebungen, die ähnlich willkürlich seien wie der vom Verfassungsgericht gerügte Effekt. Das Wahlergebnis werde „grob verzerrt“, klagt Oppermann.

Die Richter könnten den Bundestag blamieren

Je mehr Parteien in den Bundestag einziehen, desto größer werde die Verzerrung: „Im schlimmsten Fall können Überhangmandate die Mehrheiten umdrehen“, warnt Oppermann. Die SPD will daher die Überhangmandate ganz abschaffen.

Für eine erneute Korrektur bis zur Wahl 2013 würde die Zeit knapp, so das Gericht. Doch für den Fall, dass sie das Gesetz wieder kippen, haben die Richter einen Notfall-Plan: Falls sich die Parteien nicht einig würden, könne das Gericht einen Vorschlag machen – größer könnte die Blamage für den Bundestag nicht sein.