Karlsruhe/Duisburg. . Das Bundesverfassungsgericht prüft an diesem Dienstag, ob das neue Recht für die Bundestagswahlen verfassungsgemäß ist. SPD, Grüne und zahlreiche Bürger greifen die von Union und FDP beschlossene Gesetzesreform an. Der Zweite Senat verhandelt mündlich über die Klagen.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe befasst sich am Dienstag mit einem besonders sperrigen Thema. Erwartet wird ein Grundsatzurteil zu den Grundlagen unseres Wahlrechts und der Chancengleichheit für jede einzelne Stimme bei der Bundestagswahl. Genau diese Abgeordnete von SPD und Grüne sowie mehrere Tausend private Beschwerdeführer auch nach der Bundeswahlrechtsreform von 2011 verletzt.
Das Gericht verhandelt nach eigenen Angaben über eine Normenkontrollklage der Fraktionen von SPD und Grünen, eine Organklage der Partei der Grünen und die von 3063 Beschwerdeführern erhobene Bürgerklage. Die Massenbeschwerde wurde vom Verein "Mehr Demokratie" und den Initiatoren der Internet-Seite "Wahlrecht.de", die unter anderem in Duisburg sitzen, gemeinsam organisiert.
Hintergrund des Streits ist ein Paradox des Bundestagswahlrechts: Unter bestimmten Umständen können mehr Stimmen für eine Partei in einem Bundesland dazu führen, dass es in diesem Land zwar nicht zu einem weiteren Mandat reicht, in einem anderen diese Partei aber einen Sitz verliert. Hätten beispielsweise bei der Bundestagswahl 2005 in Hamburg 19.500 SPD-Wähler keine Zweitstimme abgegeben, so hätte die SPD einen Abgeordneten mehr im Bundestag gehabt.
Schwarz-gelbe Wahlrechtsreform in der Kritik
Dieses negative Stimmgewicht hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 2008 als willkürlich und verfassungswidrig verworfen. Es verletze den Grundsatz der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Das Grundgesetz verlange, dass jede Stimme die gleiche "Erfolgschance" habe, die Zusammensetzung des Bundestages zu beeinflussen. Mit seinem damaligen Urteil gaben die Verfassungshüter dem Gesetzgeber bis Mitte 2011 Zeit, das Wahlrecht "auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen".
Doch erst Ende September 2011 wurde dann eine Wahlrechtsreform verabschiedet. Nach Überzeugung der Kläger und Beschwerdeführer ist der Gesetzgeber dabei aber nicht nur an der Frist, sondern auch inhaltlich an dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts gescheitert. Auch das neue Wahlsystem geht von Landeslisten der Parteien aus und verknüpft die Direktwahl lokaler Abgeordneter durch die Erststimme mit der Verhältniswahl über die Zweitstimme. Geändert wurden lediglich die Reihenfolge der Rechenschritte zur Sitzvergabe sowie ergänzende Ausgleichsmechanismen.
Damit wurde das Phänomen des negativen Stimmgewichts aber nicht beseitigt, monieren die Kritiker. Wären 2005 in Dresden nur 5000 CDU-Wähler zuhause geblieben, hätte ihre Partei nach neuem Wahlrecht auf Bundesebene einen Sitz mehr gehabt, rechnen sie vor.
Knackpunkt "negatives Stimmgewicht"
Die Verteidiger der Reform führen an, die Wahrscheinlichkeit eines solchen negativen Stimmgewichts habe sich gegenüber früher aber deutlich verringert. Es gebe kein Wahlrecht, das alle Anforderungen vollständig erfülle. Es müsse auch die Ansprüche der direkt gewählten Abgeordneten sowie ein ausgewogenes Machtverhältnis der Bundesländer im Bundestag berücksichtigen.
Hintergrund ist, dass sich das negative Stimmgewicht vorrangig aus der Verknüpfung von Direktwahl, Verhältniswahl und Länderproporz ergeben kann. Gleiches gilt für die Überhangmandate, die vergeben werden, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als es ihrem Anteil an den Zweitstimmen entspricht. 2009 erzielten nur die Unionsparteien zusammen 24 Überhangmandate. Auch dagegen wenden sich die Kläger.
Das Bundesverfassungsgericht hatte schon 2008 betont, dass die für Deutschland typische Verknüpfung von Direkt- und Verhältniswahl zulässig ist. Beim Bundestag als "Vertretungsorgan des Bundesvolkes" müsse notfalls das "föderale Element" zurücktreten.
Im Vorfeld der Karlsruher Verhandlung zeigten sich daher SPD und Grüne ebenso optimistisch wie die die Privatbeschwerden bündelnde Bürgerinitiative "Mehr Demokratie". "Ich bin zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Überhangmandate für verfassungswidrig erklären wird", erklärte etwa der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann. Wären jetzt Bundestagswahlen, würden es nach Infratest-Berechnungen 25 bis 30 Überhangmandate geben - "so viele wie noch nie". (afp/dapd)