Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verzögerungen beim neuen Wahlgesetz für den Bundestag gerügt. Nach dem Willen der Regierung soll das Gesetz bereits bei der Bundestagswahl 2013 greifen. Für Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle wird die Zeit bis dahin knapp.
Tadel aus Karlsruhe für die Politiker: Das Bundesverfassungsgericht hat in der Verhandlung über das neue Bundestags-Wahlrecht mit bemerkenswert kritischen Worten Versäumnisse des Gesetzgebers gerügt. "Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen", mahnte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am Dienstag.
SPD, Grüne und zahlreiche Bürger klagen vor dem höchsten deutschen Gericht gegen die Wahlordnung, mit der im Jahr 2013 erstmals der Bundestag gewählt werden soll. Sie kritisieren, dass weniger Stimmen für eine Partei trotzdem zu mehr Sitzen führen können. Ein Grund sind die Überhangmandate. Der Zweite Senat in Karlsruhe dürfte sein Urteil frühestens in einigen Monaten fällen. Er hatte das Wahlrecht bereits im Juli 2008 teilweise für verfassungswidrig erklärt und Korrekturen verlangt.
Mehr Stimmen könnten zu weniger Sitzen im Parlament führen
Voßkuhle kritisierte, die Politik habe nicht die von Karlsruhe gesetzte Frist bis zum 30. Juni 2011 eingehalten, sondern die Reform erst verspätet im Dezember in Kraft gesetzt. Jetzt werde die Zeit aber knapp, bis zur Bundestagswahl 2013 die Verfassungsmäßigkeit der neuen Wahlordnung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, sagte Voßkuhle in seinen einleitenden Worten.
Die Kläger - SPD, Grüne und 3.063 Bürger - sehen die Vorgaben nicht als erfüllt an. Sie greifen auch das neue Gesetz als verfassungswidrig an. Mehr Stimmen könnten weiterhin zu weniger Sitzen im Parlament führen, meinen sie.
Oppermann fürchtet, dass Wahlergebnisse "grob verzerrt" werden
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, kritisierte während der Verhandlung vor allem die Überhangmandate, die in Zukunft sogar noch zunehmen würden. Überhangmandate entstehen durch die Erststimmen. Der Kandidat mit den meisten Erststimmen im Wahlkreis erhält auf jeden Fall ein Direktmandat im Parlament. Gibt es für eine Partei mehr Direktmandate, als ihr Sitze im Parlament zustehen, entstehen zusätzliche Überhangmandate.
Oppermann rechnete vor, dass fast vier Prozent der Bundestagssitze Überhangmandate sind. Allein in Baden-Württemberg erreichte die CDU 2009 zehn Überhangmandate. Die Schieflage werde deutlich, wenn man bedenke, dass Hamburg nur dreizehn Sitze im Bundestag stellt. Das Wahlergebnis werde dadurch "grob verzerrt", sagte Oppermann. Im Extremfall könnten Überhangmandate sogar zu einer Umkehr der Mehrheitsverhältnisse führen.
Union sieht keine Begünstigung der Regierungsparteien
Der Grünen-Politiker Volker Beck kritisierte, dass Union und FDP keinen ernsthaften Konsens mit der Opposition gesucht und das Gesetz im Alleingang verabschiedet hätten. Beck forderte das Bundesverfassungsgericht auf: "Stoppen Sie diese Selbstbedienung der Koalition."
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Günter Krings, verteidigte dagegen das neue Wahlrecht. Die Reform begünstige nicht die Regierungsparteien. "Die Koalition ist nicht Profiteur dieses Wahlrechts, sie hätte zwei Mandate weniger als 2009", sagte Krings. Er sei überzeugt, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 2008 erfüllt wurden. Im Übrigen hätten auch die Vorschläge der SPD und der Grünen für ein neues Wahlrecht zu Verzerrungen geführt, argumentierte Krings.
Wahlbeteiligung soll Listenplätze im Parlament bestimmen
Der Bundesgeschäftsführer der Linken, Matthias Höhn, mahnte zu einer schnellen Entscheidung. Schwarz-Gelb habe keine echte Wahlrechtsreform vorgelegt, sondern nur "ein Murksgesetz", erklärte Höhn in Berlin. "Der Union geht es einzig und allein darum, die Überhangmandate zu erhalten, von denen sie bisher am meisten profitiert hat." Es gebe immer noch die Möglichkeit, dass Wähler durch ihre Stimme einer Partei im Ergebnis schaden. Er plädierte überdies für die Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde und eine Einbeziehung der dauerhaft hier lebenden Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in das Wahlrecht.
Das Bundesverfassungsgericht befasste sich in der mündlichen Verhandlung nicht nur mit den Überhangmandaten, sondern auch mit dem Einfluss der Wahlbeteiligung auf die künftigen Parlamentssitze. Denn jedes Bundesland erhält künftig die Listenplätze im Parlament je nach Wahlbeteiligung. Damit haben Nichtwähler starken Einfluss auf den Ausgang der Wahl.
Auch die bundesweite Zählung der Reststimmen steht auf dem Prüfstand. Die Summierung der Reststimmen verhilft den kleinen Parteien zu zusätzlichen Mandaten. (dapd).