Berlin. Das ganze Wochenende laufen in Berlin die Drähte heiß. Sitzungen der Koalitionsspitzen wechseln sich ab, dann telefonische Beratungen, die Situation ist dramatisch. Protokoll einer verzweifelten Kandidatenkür - in der die Kanzlerin klein beigeben musste.
Am Abend sitzt er schon dabei. Rechtzeitig war Joachim Gauck aus Wien eingetroffen. Er nimmt Platz zwischen Kanzlerin Angela Merkel und SPD-Chef Sigmar Gabriel. Das Signal ist klar: Er ist der Kandidat, der aus der Mitte der Parteien kommt. Er ist der designierte Nachfolger von Christian Wulff und seine Wahl zum Bundespräsidenten eigentlich nur noch Formsache.
Als die Kanzlerin ihn am Handy erreichte, saß er gerade im Taxi. Überwältigt sei er, auch "ein wenig verwirrt", gesteht der Theologe und Bürgerrechtler. Bewegt sei er, dass er, in der Diktatur aufgewachsen, "jetzt an die Spitze des Staates vorrücken wird". Es habe ihm unglaublich geholfen, dass die Parteien für seine Kandidatur seien und dass Merkel Hochachtung und Zuneigung für ihn empfinde.
An Lob fehlt es nicht. "Ein guter Anfang", sagt FDP-Chef Philipp Rösler. "Er wird diesem Amt wieder Respekt geben, Würde", ergänzt Grünen- Chefin, die ihre Begeisterung schwer zügeln kann. Und CSU-Chef Horst Seehofer vergisst nicht den Hinweis, dass der Mann schon in Kreuth war, bei der traditionellen Klausur der CSU. Es sei auch ihr Ziel, einen gemeinsamen Kandidaten vorzuschlagen, hatte Merkel gesagt. "Ich bin sicher: Dieser Mann kann uns wichtige Impulse heben", fügt sie hinzu. "Ende gut, alles gut", empfiehlt Gabriel den Journalisten als Überschrift. Macht er Witze?
Die Gnade der zweiten Chance
Tatsächlich ist es eine große Inszenierung. Gauck wusste seit langem, dass er Chancen hatte und wen es umzustimmen galt. "Rufen Sie doch Frau Merkel an", hatte er am Nachmittag gesagt. Das taten dann nicht unbedingt seine Befürworter von SPD und Grünen, sondern die FDP. Die Liberalen sprachen sich für ihn aus. Ihr Chef Philipp Rösler drohte gar damit, Gauck gemeinsam mit SPD und Grünen zu wählen. Erst da lenkte die Kanzlerin ein und gab ihre Einwände gegen Gauck auf. Zur späteren Präsentation ließ sie keine Fragen zu. So konnte sie nicht mit ihren Widersprüchen konfrontiert werden. Alles gut?
Gaucks erfährt die Gnade der zweiten Chance, 2010 war er Christian Wulff nur ganz knapp unterlegen, und Rösler erlebt sich neu: als Königsmacher. Es ist sein erster Achtungserfolg seit vielen Monaten. Unklar ist, ob die Union darüber nur schockiert oder insgeheim auch dankbar ist, dass die Liberalen ihr die Total-Korrektur aufzwangen. Rösler zögerte nicht lang. Nach etwa zweistündigen Beratungen im Kanzleramt bat er am frühen Nachmittag um Auszeit und berief eine telefonische Konferenz mit seinem Präsidium ein. Einstimmig sprach sich das führende Gremium der FDP für Gauck aus. Derart gestärkt stellte Rösler die Kanzlerin vor vollendete Tatsachen: Gauck oder gar nicht. Nach langem Rumoren gaben Merkel und Seehofer nach. Gauck, der noch in Wien weilte, wusste, dass er nicht seines Glückes Schmied war. "Schaun wir`mal", sagte er.
Wie sich die Kanzlerin verrechnete
Rösler wusste, was er der Union zumutete. Deshalb die "Schalte". Er wollte sich rückversichern. Und bis auf Außenminister Guido Westerwelle, der in Südamerika unterwegs, ist die gesamte FDP-Führung beteiligt. Für Merkel bedeutet das Votum das späte Eingeständnis eines Fehlgriffs mit Wulff, damals 2010.
Sie hat sich eigentlich verrechnet. Auf Tempo hatte sie gedrückt, eine Hängepartie wollte sie vermeiden. Schon wenige Stunden nach Wulffs Rücktritt am Freitag knüpfte sie den Kontakt zur SPD. Die SMS-Botschaften und Telefonate aber bleiben Rösler nicht verborgen. Er befürchtet, dass sich Rot-Grün und Union auf den früheren Umweltminister Klaus Töpfer einigen. Die FDP wäre wieder einmal überflüssig gewesen. Schon am Samstag ließen die Liberalen erkennen, dass sie weder CDU-Mann Töpfer noch Bischof Wolfgang Huber tragen würde, der zwischenzeitlich ebenfalls diskutiert worden war.
Der Stellenbeschreibung von SPD und Grünen hätte Huber durchaus entsprochen. Ein aktives Kabinettsmitglied werde man auf keinen Fall wählen und möglichst auch "keinen aktiven Politiker einer Partei." So beginnt noch am Samstag ein Marathon fruchtloser Gespräche. Nach einer ersten Beratungen werden viele Namen durchgegangen und verworfen. Zwei Präsidenten winken ab: Der oberste Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle und Norbert Lammert, der oberste Repräsentant des Bundestages. Die CSU schlägt Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth, eine Frau. Das weckt Fantasien - aber nicht bei der FDP. Sie lehnt auch Roth ab.