Essen. . Ist Christian Wulff als Bundespräsidenten noch haltbar? Die jüngste Aufdeckung seines Ausrasters auf der Mailbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann sorgt für Diskussionen. Letztlich könnte sein Amt Wulff vor einem Rücktritt sogar schützen.
Die Kredit-Affäre des früheren Ministerpräsidenten Wulff ist zu einer Auseinandersetzung über das Amtsgebaren des Bundespräsidenten Wulff geworden und um sein Verständnis der im Grundgesetz geschützten Pressefreiheit. Nach seinem Versuch, auf die Berichterstattung über die Kredit-Affäre einzuwirken, ist für die SPD jetzt ein Ende der „Schonfrist“ für den Bundespräsidenten erreicht, hieß es am Dienstag aus der Bundestagsfraktion.
Selbst in seiner politischen Heimat wird Wulff unter Feuer genommen: Der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Niedersachsen erklärte, er erhalte zahlreiche Anrufen von Parteifreunden: „Alle äußerten sich negativ zu Wulffs Verhalten“. Und der frühere „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust erklärte am Dienstag in einem Radio-Interview, Wulffs Anruf bei „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann sei ein „politisches Selbstmordkommando“ gewesen. Ist Wulff als Bundespräsident noch haltbar?
Der Bundespräsident hat sich selbst höchsten Schaden zugeführt
Aus Sicht von Timo Grunden, Politikwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen, hat sich Wulff in der Affäre selbst enormen Schaden zugefügt: „Der Bundespräsident wird von niemandem kontrolliert. Er trägt für sich selbst die Verantwortung. Er hat sehr wenig Macht, aber er muss mit seiner persönlichen Integrität und Autorität den Konsens der Republik repräsentieren. Dazu bedient er sich des Worts – und das Wort des Staatsoberhaupts wiederum lebt von Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit von Wulff ist nun beschädigt“ - wenn nicht dahin.
Ähnlich sieht es Horst Pöttker, Journalistik-Professor an der TU Dortmund: „Der Bundespräsident hat eine Vorbildfunktion. Er kann sein Amt nicht mehr so ausüben, wie er es müsste, weil er sich in Zukunft zu vielen Dingen nicht mehr glaubhaft äußern kann. Jeder Tag länger im Amt, schadet seiner Person“. Und Timo Grunden ergänzt: „Der Bundespräsident möchte eigentlich von allen geschätzt werden. Nach dem Anruf auf die Mailbox des Bild-Chefredakteurs: Könnte Herr Wulff noch eine Rede zur Pressefreiheit halten, ohne dass wer lacht? Würde Herr Wulff noch Ernst genommen werden, wenn er eine Rede zur Finanzwirtschaft hält?“
Eine erneute Bundesversammlung ist nicht im Sinne der Kanzlerin
Der Bonner Politikwissenschaftler und Soziologie-Professor Gerd Langguth kritisiert, dass sich Wulff mit dem Mailbox-Anruf des „Bild“-Chefredakteurs „töricht“ verhalten hat: „Ihm sind die Nerven durchgegangen“. Gleichwohl sieht Langguth darin keinen zwingenden Grund für einen Amtsverzicht Wulffs: „Aus dem Anruf eine Debatte über sein Verständnis zur Pressefreiheit zu machen, halte ich für übertrieben.“ Auch soll sich Wulff, Berichten zufolge, kurz nach dem Anruf bei der Zeitung für seine Worte entschuldigt haben.
Zudem wäre ein Rücktritt politisch fatal für die Bundesregierung, weshalb Kanzlerin Angela Merkel nach wie vor zu Wulff halten wird, glaubt Langguth: „Merkel hat kein Interesse, nach dem Köhler-Rücktritt erneut so schnell eine Bundesversammlung einzuberufen, zumal die Regierungsparteien dort nur noch eine äußert knappe Stimmenmehrheit haben.“ Außerdem gebe es juristisch keinen Grund, dass Wulff zurücktreten müsste. Langguth: "Er hat mit dem Kredit nichts Justitiables verbrochen.“
„Ein Ministerpräsident wäre bei den selben Vorwürfen längt nicht mehr im Amt haltbar“
Michael Philipp, Auto eines Buches über Politiker-Rücktritte, hält Wulff „die gleichen Fehler vor, die Karl-Theodor zu Guttenberg in der Plagiats-Affäre im vergangenen Jahr gemacht hat: Wulff hat zu lange geschwiegen, dann in einer Art Salamitaktik nur zugegeben, was sich nicht mehr verschweigen ließ“. Ein schlechtes Krisenmanagement – siehe den Fall Guttenberg – „hat oftmals schlimmere Folgen, als der ursprüngliche Skandalgegenstand“. Hätte jedenfalls Karl-Theodor zu Guttenberg nach den ersten Hinweisen auf seine Plagiats-Doktorarbeit frühzeit eingestanden, Fehler gemacht zu haben und von sich aus den Titel fallen gelassen, „wäre er heute noch Minister“, glaubt Philipp: „Weil Guttenberg damals großen Rückhalt in der Bevölkerung gehabt hatte“.
Bei Christian Wulff hingegen sieht Michael Philipp wie Gerd Langguth das Amt an sich als Rückhalt: „Die Besetzungsmechanismen schützen Wulff vor einem Rücktritt“. Grund dafür ist die überparteiliche Position des Präsidenten: „Wäre Wulff ein Minister, hätte ihn seine Partei längst zum Rücktritt gezwungen. Weil man mit ihm keine Wahl mehr gewinnen würde“, glaubt Philipp. Und Prof. Gerd Langguth ergänzt: „Christian Wulff wird im Amt bleiben – wenn er ein dickes Fell behält und nicht wegen des Medienechos auf seinen „Bild“-Anruf hin den Büttel hinwirft.
Wozu braucht es überhaupt noch einen Bundespräsidenten?
Johannes Rau hatte einst eine Flugaffäre (wegen der Christian Wulff damals Raus Rücktritt als Bundespräsident forderte), Horst Köhler trat im Mai 2010 überraschend von seinem Amt zurück und Christian Wulff steht, kaum eineinhalb Jahre im Amt, unter Beschuss: Es scheint, die Bundesrepublik hat in den vergangenen Jahren nicht viel Glück mit der Besetzung ihres höchsten Staatsamtes. Aus Sicht von Experten ist das allerdings kein Grund, an der Notwendigkeit eines Bundespräsidenten zu zweifeln.
"Eigentlich könnte man auf einen Präsidenten verzichten, er ist ein Überbleibsel der alten monarchischen Ordnung", sagt Prof. Gerd Langguth. "Aber jeder Staat braucht ein Staatsoberhaupt." Muss es unbedingt ein Präsident sein, wie es ihn aktuell in Deutschland gibt? Langguth sieht Alternativen: Der Präsident könnte auch "im wechselnden System der jeweilige Präsident des Bundesrates sein, das könnte auch der Kanzler sein." Er verweist allerdings auf die Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg: "Die Verfassungsväter wollten bewusst keine Präsidialdemokratie wie etwa in den USA oder in Frankreich. Der zu äußerster Überparteilichkeit verpflichtete Präsident symbolisiert so etwas wie die Einheit des Volkes."
Das Amt des Bundespräsidenten wird künftig wichtiger
Timo Grunden verweist auf das Grundgesetz: "Der Bundespräsident besitzt die sogenannte "Reservemacht". Er wird zum Schiedsrichter und Schlichter bei Regierungskrisen. Wenn es keine eindeutigen Mehrheiten im Parlament gibt - zum Beispiel bei der Wahl eines Bundeskanzlers oder bei einer gescheiterten Vertrauensfrage des Kanzlers - hat er zu entscheiden, ob er den Bundestag auflöst oder eine Minderheitsregierung ernennt."
Für Grunden wird ein Präsident, wie er in der Verfassung verankert ist, in Deutschland künftig wohl politisch noch wichtiger werden: "Der Bundespräsident kann zusammen mit dem Bundesrat Gesetze gegen den Bundestag in Kraft setzten lassen, wenn es sich um einen "Gesetzgebungsnotstand" handelt, weil er ein gescheitertes Gesetz als absolut notwendig erachtet." Diese Schiedsrichterfunktion bei Regierungskrisen, die für Grunden "in einem Parlament mit fünf oder sechs Parteien wahrscheinlicher werden" könne nur "ein 'ehrlicher Makler', der über den Parteien und ihren Partikularinteressen steht, ausüben. Dazu braucht er Autorität und parteiübergreifende Anerkennung - sowohl unter unter den Parteien als auch in der Öffentlichkeit, die ein Parlamentspräsident oder ein Kanzler nicht hat."
Grundens Fazit: "Es gibt im internationalen Vergleich kein parlamentarisches Regierungssystem, das auf eine doppelte Exekutive, also Regierungschef und Präsident, verzichtet." Nur ob der Präsident Christian Wulff heißen muss, sieht Grunden nicht als notwendig an. Sollte Wulff zurücktreten würde das auch nicht eine Staatskrise auslösen, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel vor Weihnachten erklärte. Grunden: "Dann werden die Karten neu gemischt - mehr nicht".