Essen. .

Der Hamburger Historiker Michael Philipp hat 250 Politiker-Rücktritte in Deutschland erforscht. Die Loveparade-Katastrophe gibt für ihn Anlass genug, dass Duisburgs OB sein Amt verlässt. Dabei geht es nicht um Schuld, sondern um politische Verantwortung.

Die meisten Politikerrücktritte in Deutschland sind Folge eines Skandals. Selten wird dabei der ‚richtige Zeitpunkt’ getroffen, meist werden Politiker zum Handeln gedrängt. Buchautor Michael Philipp hat in seinem Buch „Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen“ (SZ-Verlag, München, 2007) 250 Politiker-Rücktritte erforscht. Der Fall des Duisburger Oberbürgermeisters Adolf Sauerland reiht sich für Philipp in viele Fälle ein, in denen Amtsinhaber ein falsches Verständnis von politischer Verantwortung haben.

Würden Sie Duisburgs OB Adolf Sauerland einen Rücktritt nahelegen?

Historiker und Kunst-Kurator: Michael Philipp hat Politiker-Rücktritte erforscht. (Foto: Verlag SZ)
Historiker und Kunst-Kurator: Michael Philipp hat Politiker-Rücktritte erforscht. (Foto: Verlag SZ)

Michael Philipp: Der Oberbürgermeister ist Chef der Verwaltung, er trägt also die Verantwortung für Fehler, die dort gemacht wurden und ist oberster politischer Repräsentant der Stadt. Das Geschehen der Loveparade ist so gravierend, dass ein Rücktritt schon deshalb zwingend wäre. Zudem ist es unglaubwürdig, dass ein OB die Aufklärung der Vorgänge betreibt, die letztlich ihm selbst Verfehlungen nachweisen könnten.

Herr Sauerland knüpft seine Zukunft im Amt an den Nachweis persönlicher Schuld.

Michael Philipp: Wenn etwas daneben geht, dann ist es der Chef, der das einzugestehen und zu verantworten hat. Durch die Katastrophe der Loveparade sind das Amt und das Ansehen der Stadt Duisburg beschädigt. Dadurch ist das Vertrauen der Bevölkerung zerstört, von ihrem Stadtoberhaupt ,gut regiert’ zu werden.

Es wird kritisiert, Adolf Sauerland würde vorverurteilt und zum Sündenbock gemacht.

Michael Philipp: Ein Rücktritt ist kein Schuld-Eingeständnis, er enthält keine rechtliche und nicht unbedingt eine politische Bewertung. Hier geht es um eine moralische Bewertung, die auch den Respekt vor den Opfern verdeutlicht. Es geht darum, einen Neuanfang zu ermöglichen. Der alte Amtsinhaber zieht sich zurück – und er nimmt damit symbolisch auch den Schaden mit. Das würde dem Sündenbock-Prinzip in der ursprünglichen, biblischen Bedeutung entsprechen. Aber mit Herrn Sauerland würde es schon den Richtigen treffen.

Wie wichtig ist die Rolle der Partei?

Michael Philipp: Solange die Partei ihrem Amtsinhaber den Rückhalt versichert, wird der Politiker im Amt bleiben. Seine Partei entscheidet, welchen Preis sie bereit ist zu zahlen. Es ist klar, dass mit einem Skandal-Politiker die Chancen sinken, eine Wahl zu gewinnen. Der Preis wird über die Medien festgelegt. Entscheidend ist daher auch die Welle der Entrüstung, also wie lange ein Thema in den Schlagzeilen bleibt. Wenn die Welle abebbt, lässt auch der Druck auf den betroffenen Politiker nach.

Ist ein Rücktritt eine „Charakterfrage“, wie es Duisburgs Alt-OB Josef Krings Sauerland vorhält?

Michael Philipp: Soweit würde ich nicht gehen. Aber es fällt auf, dass die Fähigkeit zur Selbstreflexion bei Spitzenpolitikern oft nicht sehr ausgeprägt ist. Dazu würde ich auch Stadtoberhäupter zählen. Es braucht Durchsetzungsvermögen, um in ein Spitzenamt zu kommen, eine gewisse Härte und Entschlossenheit. Die für eine Karriere notwendige Selbstsicherheit kann aber verhindern, sich selbst in Frage zu stellen. Oft findet sich auch im Umfeld nicht eine Kultur des Widerspruchs, sondern der Anpassung.

Ihr Buch hat den Titel „Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen“ – wie ist das zu verstehen?

Michael Philipp: Politiker, die skandalisiert werden, erklären häufig, sie hätten sich persönlich nichts vorzuwerfen, die Beschuldigungen gegen sie treffen nicht oder nur bedingt zu. Das bezieht sich vor allem auf Fälle, in denen politische Verantwortung übernommen wird. Auch sehr gerne wird gesagt: „Ich trete zurück, um Schaden von meinem Amt abzuwenden“. Das ist eine Standard-Phrase, die meist erst dann gesagt wird, wenn der Schaden schon eingetreten ist für das Amt.

Sie sagen, Rücktritt verlaufen letztlich ziemlich ähnlich…

Michael Philipp: Bei einer Skandalisierung wiederholen sich bestimmte Abläufe: Es wird ein Verdacht in Medien erwähnt, dem folgt ein Dementi der Beschuldigten. Das spornt Medien zu weiteren Recherchen an, dann kommt die Verstärkung des Dementis oder es werden Teile eingeräumt, das große Ganze aber zurückgewiesen. Im Anschluss kommt die Partei oder der Regierungschef und sprechen dem Amtsinhaber ihre Solidarität aus und weisen die Vorwürfe zurück. Die Opposition beginnt mit Rücktrittsforderungen, allmählich verdichten sich Belege dafür, bis langsam die Parteifreunde abrücken – meistens ist dann der Politiker nach wenigen Tagen nicht mehr im Amt zu halten.

Unter Beschuss: Duisburgs OB Sauerland steht seit der Loveparade-Katastrophe unter Polizeischutz und sieht sich zum Teil heftigen Anfeindungen ausgesetzt. (Bild: ddp)
Unter Beschuss: Duisburgs OB Sauerland steht seit der Loveparade-Katastrophe unter Polizeischutz und sieht sich zum Teil heftigen Anfeindungen ausgesetzt. (Bild: ddp) © ddp

In Duisburg hält die CDU zu ihrem OB – er ist also geschützt?

Michael Philipp: Solange die Partei einen unter Beschuss geratenen Politiker stützt, ja. Der frühere Ministerpräsident von Brandenburg, Manfred Stolpe, hat sich jahrelang gegen Stasi-Vorwürfe behauptet und im Amt gehalten. Grund dafür: Er war in der Bevölkerung beliebt und hat der SPD die Mehrheit im Landtag beschert.

Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein politisches Amt aufzugeben?

Michael Philipp: Viele Politiker halten sich für unentbehrlich und widersetzen sich einem Rücktritt. Sei es bei einer Skandalisierung oder nach überlanger Dienstzeit. Der frühere NRW-Ministerpräsident Johannes Rau zum Beispiel hat sich lange vor einem Rücktritt gescheut – auch als sein Nachfolger Wolfgang Clement längst in den Startlöchern stand.

Wie sieht es mit dem richtigen Zeitpunkt bei einem Skandal wie in Duisburg aus?

Michael Philipp: Ab einem gewissen Zeitpunkt der Skandalisierung müsste ein Politiker aus Selbstschutz erkennen, dagegen kann ich mich im Amt nicht mehr behaupten, das wird mich überrollen. Margot Käßmann hat nach ihrer Alkohol-Autofahrt sofort erkannt, dass sie als EKD-Ratspräsidentin nicht mehr im Amt bleiben kann: Sie hatte ihre moralische Autorität verspielt. Ihr sofortiger Rücktritt war deshalb auch eine richtige Tat. Das hätte Sauerland auch machen sollen.

„Dieses Unglück wird mich mein Leben lang nicht mehr los lassen“: Das Bild zeigt OB Adolf Sauerland am Sonntag nach der Katastrophe. (Foto: ddp)
„Dieses Unglück wird mich mein Leben lang nicht mehr los lassen“: Das Bild zeigt OB Adolf Sauerland am Sonntag nach der Katastrophe. (Foto: ddp) © ddp

Manche entgegnen den Rücktrittsforderungen an Duisburgs OB, ein Abschied würde die Toten auch nicht mehr lebendig machen…

Michael Philipp: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass man die Opfer würdigt und sich bekennt dazu, dass das Geschehene nicht ‚ad Akta’ gelegt wird. Ein Rücktritt ist für die Betroffenen und die Angehörigen der Toten eine Anerkennung ihres Leides. Es geht um den Respekt vor den Opfern und um das Gedenken.

Wie zeichnet sich allgemein das Rücktrittsverhalten von CDU-Politikern aus?

Michael Philipp: Ein parteispezifisches Verhalten gibt es nicht. Von allen Faktoren, die bei der Frage eines Amtsrücktritts eine Rolle spielen, ist die Parteizugehörigkeit die geringste. Solange der Politiker den Rückhalt seiner Partei hat, kann er sich im Amt halten.

Welche Folgen hat ein Rücktritt für das Ansehen eines Politikers?

Michael Philipp: Er muss keineswegs das Ende einer Karriere sein und er schadet auch nicht nachhaltig dem Ansehen. Der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters zum Beispiel hatte 1993 die Verantwortung für einen Polizeieinsatz gegen zwei mutmaßliche Terroristen in Bad Kleinen übernommen. Zwei Personen kamen damals ums Leben, darunter ein BKA-Beamter. In der Folge schoben sich die Beteiligten gegenseitig die Verantwortung zu. Seiters hat nach kurzer Zeit die Konsequenzen gezogen und damit für eine Versachlichung der Diskussion gesorgt. Der Rücktritt hat ihm nicht geschadet, er wurde später Bundestagsvizepräsident und ist heute Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.

Sehen Sie weitere potentielle Rücktrittskandidaten nach der Loveparade-Katastrophe? Zum Beispiel den CDU-Bundestagsabgeordneten Thomas Mahlberg, der den damaligen NRW-Innenminister Wolf aufgefordert hatte, Duisburgs Polizeipräsidenten wegen dessen Loveparade-Kritik zu entlassen.

Michael Philipp: Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, aber dieser Fall taugt nicht für eine Rücktrittsdebatte. Das Problem liegt bei ihm selbst, er bekleidet kein herausragendes politisches Amt in der Stadt wie etwa der OB.

Wie steht es um unter Beschuss geratene leitende Mitarbeiter der Verwaltung?

Michael Philipp: Die Notwendigkeit eines Rücktritts sehe ich nur bei der gewählten Verwaltungsspitze – also beim OB. Was alle Personen darunter angeht, handelt es sich um eine Frage der juristischen Bewertung.

Sie plädieren für eine „Rücktritts-Kultur“: Was verstehen Sie darunter?

Michael Philipp: Bis dato ist es so, dass Politiker viel zu lange an ihrem Amt kleben. Die meisten Rücktritte erfolgen zu spät – Horst Köhler, Roland Koch und Ole von Beust sind da in diesem Jahr eine Ausnahme. Amtsinhaber sollten sich viel häufiger hinterfragen. Mehr Selbstreflektion bei Politikern – auch Selbstdistanz halte ich für wünschenswert. Verantwortung zu übernehmen, ungeachtet von persönlicher Schuld: Das würde auch das Image von Politik und von Politikern fördern.

Im Fall des Duisburger OB könnte es immerhin zu einem Abwahlverfahren kommen…

Michael Philipp: Eine Abwahl wäre ein schmählicher Abgang. Weil der Betroffene sich damit passiv den äußeren Geschehnissen überlässt. Das ist das Gegenteil von einem selbstbestimmten, durch eigene Entscheidungen vollzogenen Entschluss.

Würden Sie einen Sauerland-Rücktritt noch erwarten?

Michael Philipp: Wenn all die Rücktrittsforderungen – sogar des Bundespräsidenten – den OB nicht zur Einsicht bringen oder wenn nicht noch ein gravierendes Dokument auftaucht, das ihn belastet, dann halte ich einen Rücktritt für unwahrscheinlich.