Essen. Die Autorin Inge Kloepfer setzt sich kritisch-mitfühlend mit der Unterschicht in Deutschland auseinander. Im Interview plädiert sie für mehr Zwang und Disziplinleistungen, aber auch für bessere Bildungsarbeit an Schulen und Vorschulen. Und: Das Betreuungsgeld hält sie für teuren Unfug.

Der Begriff „Unterschicht” ist umstritten. Manche sagen, er sei zu stigmatisierend. Warum verwenden Sie ihn trotzdem?

Inge Kloepfer: Weil ich finde, dass man die Dinge klar benennen muss. Und es gibt nun einmal gravierende Unterschiede in der Gesellschaft. Es ist hochgefährlich, vor lauter politischer Korrektheit nicht das zu sagen, wie es wirklich ist.

Wer gehört eigentlich zur Unterschicht?

Kloepfer: Da müssen drei Merkmale zusammenkommen: Prekäre materielle Verhältnisse sind das eine. Das zweite ist die Bildungsferne. Drittens geht es um ein bestimmtes Verhalten, das den Unterschicht- Status verfestigt und das wenig Chancen bietet, dem Milieu zu entwachsen. Dazu gehört, dass vor lauter Perspektivlosigkeit eigene Anstrengungen fehlen.

Das Materielle alleine, die Armut reicht nicht?

Kloepfer: Nein, schauen Sie, ich kenne eine alleinerziehende Musikerin mit drei Kindern, bei der es am Ende des Monats finanziell knapp wird. Aber zur Unterschicht gehört sie deshalb noch lange nicht. Sie ist gebildet und ihre Kinder sind in der Schule erfolgreich. Sie selbst arbeitet freiberuflich. Das ist selbst gewählt und nicht einfach.

Sie sagen, 20 Prozent der jungen Leute steuern auf ein Leben mit Sozialhilfe zu. ist das nicht übertrieben?

Kloepfer: Das ist noch konservativ geschätzt. Grundlage sind einige Studien. Bei den Pisa-Tests verharren 20 bis 23 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf den untersten Kompetenzstufen. Sie können Texte irgendwie lesen, aber nicht verstehen. Beim Lernstandsvergleichstest in NRW schaffen zum Teil 30 Prozent die Minimalanforderungen nicht. Die Unternehmen sprechen davon, dass jeder vierte Jugendliche nicht ausbildungsfähig ist. Ich frage mich: Wie sollen diese jungen Menschen jemals in unserer Wissensgesellschaft ankommen?

In Ihrem Buch stellen Sie die These auf, die Gesellschaft produziere systematisch eine Unterschicht. Aber liegt die Verantwortung nicht zunächst beim einzelnen Jugendlichen und mehr noch bei seinen Eltern?

Kloepfer: Der soziale Status vererbt sich. Das ist der Skandal in Deutschland. Und das dürfte absolut nicht sein. Natürlich liegt das auch an den Eltern, klar. Deutschland war mal eine Aufsteigergesellschaft. Das konnte man ja gerade im Ruhrgebiet in den 1960er und 1970er Jahren sehen, als die Mittelschicht ungeheuren Zuwachs durch Arbeiterkinder erhielt. Das passierte nicht zuletzt, weil die Leute etwas für ihre Kinder taten. „Mein Kind soll es einmal besser haben”, war so ein Satz, den man immer wieder gehört hat.

"Den Kindern helfen keine Debatten"

Und wo ist dieser Impuls geblieben?

Kloepfer: Das ist die große Frage. Die Forscher sagen, die entstehende Massenarbeitslosigkeit war der Bruch. Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden, dann strengen sich viele nicht mehr an.

Aber die Leute werden gebraucht. Sie sagten es schon: Das Handwerk klagt doch über nicht ausbildungsfähige Jugendliche, in technischen Berufen gibt es durchaus freie Stellen, die nicht besetzt werden können.

Kloepfer: Ja, natürlich werden die jungen Menschen alle gebraucht. Aber sie wissen und können viel zu wenig – und das in einer Zeit in der es immer weniger junge und immer mehr alte Menschen gibt. Darin liegt die gesellschaftliche Tragödie. Aber wenn Kinder in solchen schwierigen Elternhäusern aufwachsen, und keine Perspektive haben, dann können sie den Kindern keinen Vorwurf machen. Auf die Eltern wiederum können Sie aber eben nicht bauen.

Die Gesellschaft soll also reparieren, was die Eltern verbockt haben. Doch reicht das? Brauchen wir nicht eine werteorientierte Debatte, die solchen Leuten unmissverständlicher als bisher klar macht: So nicht!

Kloepfer: Das brauchen wir sogar sehr dringend. Allerdings: Den Kindern, die jetzt die Probleme haben, hilft das erst mal überhaupt nicht. Den Kindern hilft auch nicht, wenn wir den Eltern Geld in die Hand drücken und ihnen sagen, nun kümmert euch mal. Den Kindern hilft nur eines: eine gute Kindertagesstätte, eine anständige Schule, am besten eine Campus-Schule mit Ganztagsbetrieb. Statt Betreuungsgeld zu zahlen, sollten wir besser solche Institutionen ausbauen. Da hat der Berlin-Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky durchaus Recht.

Dann ist das, was die Bundesregierung beschlossen hat – Stichwort Betreuungsgeld – schlicht falsch?

Kloepfer: Das ist total kontraproduktiv. Es gibt natürlich die intakten kinderreichen Familien, denen das Geld zu gönnen wäre und die damit auch Sinnvolles anstellen könnten. Nur: Bei vielen anderen ist es eben nicht so. Man kann aber den einen schlecht Geld geben und den anderen nicht. Deswegen sage ich: Jetzt sind bessere Schulen wichtiger als Betreuungsgeld für Eltern. Übrigens: Auch Eltern aus der Mittel- und Oberschicht wären heilfroh, wenn es endlich bessere Schulen gäbe.

Würden Sie soweit gehen zu sagen, es muss Zwang ausgeübt werden.

Kloepfer: Ich fürchte es geht nicht anders. Ich bin dafür, soziale Transferleistungen an die frühzeitige Bildungsbeteiligung der Kinder zu knüpfen. Dafür muss man Gesetze ändern, aber das geht ja in anderen Fällen auch, denken Sie nur an alles, was in der Finanzkrise zur Bankenrettung notwendig war. Es ist nun einmal erwiesen, dass Kinder in Hartz-IV-Familien die geringste zeitliche Zuwendung erhalten. Für diese Kinder muss die Kindertagesstätte verpflichtend sein, damit sie überhaupt eine Chance haben. Wer das unterläuft, bekommt dann eben weniger Unterstützung.

"Politiker haben Angst vor Eingriffen ins Elternrecht"

Das ist ein heftiger Eingriff in das Elternrecht.

Kloepfer: Deshalb haben Politiker so viel Angst davor. Hinter vorgehaltener Hand bestätigen sie aber, dass das dringend nötig wäre. Aus Sicht der Kinder – und nur um diese Sicht geht es mir – ist das alles andere als eine absurde Forderung.

Sie glauben, der Teufelskreis der Sozialhilfekarrieren, das Weitergeben dieses Lebensstils von einer Generation an die nächste, kann durchbrochen werden?

Kloepfer: Davon bin ich felsenfest überzeugt. Wenn sie diesen Kindern professionell arbeitende Kitas und Schulen bieten, dann werden diese Kinder ihre eigenen Kinder nicht mehr so behandeln, weil sie ein ganz anderes Verhalten gelernt haben. Es gibt ein interessantes Experiment aus den USA, wo Unterschichtfamilien mehrere Jahre intensiv begleitet wurden. Mütter wurden motiviert, mit ihren Kindern möglichst viel zu sprechen und sich an deren Fortschritten zu erfreuen. Der Erfolg war, dass der Entwicklungsabstand der Kinder zu jenen der Mittelschicht sehr schnell messbar zurückging.

Migranten, zumindest jene türkischer und arabischer Herkunft, zählen prozentual mehr als andere zur Unterschicht. Warum ist das so?

Kloepfer: Zunächst hat auch das mit der sozialen Schichtung zu tun. Der türkische Sozialarbeiter, der seine Kinder aufs Gymnasium schickt, ist nicht unser Problem. Wir haben in der Gastarbeiter-Phase bestimmte Migranten mit niedriger Qualifikation ins Land geholt und wir dachten, sie gehen irgendwann wieder nach Hause. Deswegen haben wir auch nichts für ihre Integration getan. Das war ein Irrtum, und so haben sich diese bildungsfernen Milieus verfestigt.

"Wir bringen uns um Teile unseres Wohlstands"

Andererseits tun sich zum Beispiel Asiaten, auch solche aus einfachen Verhältnissen, überall auf der Welt leichter mit Integration und sozialem Aufstieg.

Kloepfer: Sicher spielt die Religion, der gesamte ethnisch-kulturelle Hintergrund ebenfalls eine Rolle. Offensichtlich gibt es unter islamischen Migranten stärkere Integrationshemmnisse. Aber es gibt natürlich auch Diskriminierung durch Deutsche. Junge Türken mit gleicher Qualifikation haben nicht dieselben Chancen, die ein deutscher Jugendlicher hat. Da laufen schon oft noch Stereotypen ab.

Während Medien das Thema Unterschicht mit all ihren Problemen inzwischen intensiv spiegeln, kommt aus der Politik wenig. Warum?

Kloepfer: Die Politik ist leider fixiert auf die Bedienung ihrer Klientel, auf die Maximierung von Stimmen. Die SPD hat über Jahre am liebsten Geld, die CDU hat sich, grob gesagt, auf eine Politik für bürgerliche Schichten konzentriert. Die Chancengleichheit für Unterschichtkinder wird als Schmuddelthema betrachtet und kam deshalb im Wahlkampf gar nicht vor. Das ist extrem kurzsichtig. Selbst wenn wir sofort umsteuern, ist klar, dass wir uns mit dieser Ignoranz um einen Teil unseres Wohlstandes bringen werden, allein schon aus demografischen Gründen. Kindersegen gibt es nun einmal vor allem in der Unterschicht. Das heißt die Probleme wachsen zwangsläufig.

Ihr Buch hat den reißerischen Titel „Aufstand der Unterschicht”. Müssen wir Gewalt fürchten?

Kloepfer: In bestimmten Kiezen etwa in Berlin, aber wahrscheinlich auch im Ruhrgebiet, gehört Gewalt doch längst zur Tagesordnung. Ich stelle mir den Aufstand nicht wie den Sturm auf die Bastille vor, eher wie eine aggressive Abkehr von der Gesellschaft. Das Unrechtsbewusstsein sinkt, die Gewaltbereitschaft steigt. Die Menschen werden sich einfachen das nehmen, von dem sie meinen, es stünde ihnen zu. Es wird mehr No-Go-Gebiete geben, mehr Menschen werden abgezogen, beklaut. Schüler geraten unter Druck. Schauen Sie was jüngst in München passiert ist: Die Aggressivität ist so stark gestiegen, dass Jugendliche einen Menschen zu Tode getreten haben. Wir dürfen die Entwicklung nicht laufen lassen.

ZUR PERSON:

Inge Kloepfer, Jahrgang 1964, ist Volkswirtin, Journalistin und Bestsellerautorin. Ihr Buch „Aufstand der Unterschicht – was uns bevorsteht” (Hoffmann und Campe, 2008, 304 Seiten, 19,95 Euro) lebt von präzisen Milieubeobachtungen und hat vielen, die es gelesen haben. die Augen geöffnet. Sie lebt mit Mann und drei Kindern in Berlin, der Stadt, die neben vielen anderen Attributen auch als "Hauptstadt der Unterschicht" gilt.