Essen. NRW-Familienminister Armin Laschet ist die Unterschicht-Debatten leid: Der CDU-Politiker plädiert für mehr staatliche Hilfen und für weniger Beschimpfungen. Auch Wertedebatten, so gut gemeint sie sein mögen, erreichen nicht diejenigen Eltern, um die es geht.
Heinz Buschkowsky, der SPD-Bezirksbürgermeister von Neukölln hat auf seine provokante Art die Debatte um die Verwendung des Betreuungsgeldes in der Unterschicht angestoßen. Was ist davon zu halten?
Armin Laschet: Nichts. Es trägt nicht zur Problemlösung bei, wenn man Hartz IV-Empfänger pauschal als Säufer beschimpft. Das stimmt schlicht nicht. Es ist auch falsch zu glauben, alle hier Angesprochenen würden ihre Kinder vernachlässigen. Da gibt es durchaus solche, die für ihre Kinder das Beste wollen und dafür alles ihnen Mögliche unternehmen. Buschkowskys inhaltlicher Ansatz, lieber in Sachleistungen und in Bildung zu investieren statt Geld auszuzahlen, ist durchaus berechtigt. Aber man fragt sich, warum manche Sozialdemokraten dabei immer wieder ausfallend werden müssen.
Auch Sie sehen das pauschale Betreuungsgeld jedenfalls kritisch?
Laschet: Das Betreuungsgeld soll Familienarbeit anerkennen, das ist erst einmal sinnvoll. Ich wäre allerdings dafür, diese Anerkennung in die Rentenversicherung einfließen zu lassen. Das System haben wir ja schon, dass Kindererziehungszeiten für Mütter oder Väter bei der Rente berücksichtigt werden.
Sie selbst beschäftigt das Thema Unterschicht auch. In ihrem Buch „Aufsteigerrepublik” geht es nicht nur um Migranten, wie man meinen könnte.
Laschet: Nein, es geht auch um solche Familien, die in der zweiten, dritten Generation von Sozialhilfe leben. Auch hier fehlt ja eine Aufsteigermentalität. Wie sollen Kinder den Aufstieg schaffen, wenn die Eltern nicht mehr arbeiten, morgens keiner mehr da ist, der das Frühstück pünktlich zubereitet?
Wie bricht man solche Strukturen auf, damit wenigsten die Kinder eine Chance haben?
Laschet: Bildung ist der Schlüssel dazu. In Nordrhein-Westfalen versuchen wir das mit den Sprachtests für alle Vierjährigen und der anschließenden zusätzlichen Sprachförderung. Da merken sie übrigens etwas sehr schnell: Unter den 24 Prozent eines Jahrgangs, die Sprachförderbedarf haben, sind auch viele aus deutschstämmigen Familien. Das belegt noch mal die These, wonach wir das Bildungsproblem keineswegs auf Zugewanderte verengen dürfen. Um hier weiterzukommen, brauchen wir vor allem mehr Ganztagsangebote auf allen schulischen Ebenen.
Was ist mit den Eltern? Müssen die nicht auch mehr tun?
Laschet: Das ist der dritte wichtige Pfeiler. Sie können Lehrer und Sozialarbeiter einstellen so viel sie wollen, wenn die Eltern nicht mitziehen, wird das nicht funktionieren. Deshalb versuchen wir mit unseren mittlerweile 1750 Familienzentren, die Familienbildung und -beratung niederschwelliger zu organisieren, also den Zugang zu erleichtern, indem wir Beratung beispielsweise in Kindertagesstätten anbieten. Genau so erreicht man die Eltern, wie die Nachfrage beweist.
Und die Zuwanderer?
Laschet: Bei den Zuwandererkindern haben wir die Gründung von Elternnetzwerken angestoßen. Wir hatten sehr erfolgreiche spanische Elternvereine, das haben wir auf türkische Eltern erweitert. Wissen Sie, das Problem der „verweigerten Bildung” ist bei weitem nicht immer böser Wille, sondern oft genug nur eine Informationsfrage. Viele Zuwanderer wissen einfach nicht, welche Bildungsangebote es überhaupt gibt.
Wäre nicht auch eine Wertedebatte nötig? Es geht doch einfach nicht, dass Eltern ihre Kinder so vernachlässigen.
Laschet: Ach, man kann tagtäglich Wertedebatten führen, das ist auch richtig, aber ich glaube nicht, dass das diejenigen Eltern erreicht, um die es geht. Praktische Hilfen bringen mehr. Das Beste ist, so nah wie möglich auf die Eltern zuzugehen, und da ist die Kita der ideale Ort, weil fast jedes Kind dort hin geht - im letzten Kindergartenjahr sind es immerhin 97 Prozent aller Kinder. Elternbildung und -beratung in den Kitas anzusiedeln, ist das Effektivste, was man machen kann.
Lehrer berichten über fehlende soziale Grundfertigkeiten. Schule ist zwar eigentlich nicht ihr Thema, dennoch: Sind Schulen nicht mit ihrer Rolle als Reparaturbetrieb zunehmend überfordert?
Laschet: Es stimmt, die Anforderungen an alle, die sich um Bildung und Erziehung kümmern, sind gewachsen. Erzieherinnen müssen plötzlich unter Dreijährige betreuen, müssen Kinder in der Sprachkompetenz fördern, generell bessere und frühe Bildung möglich machen. Das geht dann in der Schule weiter. Auch dort sind heute schwierigere Aufgaben zu bewältigen als vor zwei oder drei Jahrzehnten. Nur: Man kann es ja nicht ändern. Die Gesellschaft ist wie sie ist, und die Schule ist der Ort, wo die Kinder sind.
Es kann doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein, dass der Staat unter enormen Kosten repariert, was vorher versäumt wurde. Muss es nicht doch darum gehen, die Eltern wieder stärker auf ihre unverzichtbare Rolle zu verweisen?
Laschet: Die Hoffnung, dass dies wieder stärker gelingt, habe ich durchaus. Nur hat sich die Gesellschaft in eine Richtung entwickelt, die staatliche Hilfen nötig macht. Wenn Mütter oder Väter früher nicht weiterwussten, dann haben sie ihre eigenen Eltern gefragt. Doch so sind die Strukturen heute oft nicht mehr. Heute leben die Generationen oft vielleicht hunderte Kilometer entfernt, weil die berufliche Flexibilität das erfordert. Außerdem gibt es heute viel mehr Alleinerziehende mit ihren speziellen Problemen. Oder denken Sie an die zerrütteten Familien. Die Welt ist vielfältiger geworden.
Das klingt ziemlich resignativ
Laschet: Gar nicht. Wir können politisch beschließen, Erziehung ist Sache der Eltern und basta. Aber das löst das Problem nicht. Wir müssen Eltern stark machen und wir müssen klar machen, dass Familienpolitik eben kein "Gedöns" ist, wie Alt-Kanzler Schröder glaubte. Wir müssen mit den Kindern, die jetzt da sind, leben und versuchen, Schritt für Schritt die Dinge zu verbessern. Ich sehe keinen anderen Weg.