Berlin/Kabul. Abschiebungen nach Afghanistan gehen nur mit dem Einverständnis der Taliban. Der deutschen Politik stehen unangenehme Schritte bevor.

An dem Tag, als in München ein junger Afghane seinen Mini Cooper in eine Verdi-Kundgebung steuert, zündet in der afghanischen Hauptstadt Kabul ein Selbstmordattentäter vor dem Ministerium für Stadtentwicklung eine Bombe. Bei der Explosion stirbt ein Mensch, drei weitere werden verletzt. Die Sicherheitslage in dem Land, in das Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) jetzt wöchentlich ausreisepflichtige Afghanen abschieben will, hat sich in den vergangenen dreieinhalb Jahren zwar deutlich verbessert, ist aber noch immer fragil.

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Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 überließ der Westen Afghanistan seinem Schicksal. Es herrschte Konsens: Die islamistischen Herrscher können nicht unterstützt werden. Tatsächlich wird die De-facto-Regierung des Landes international nicht anerkannt. Seit ein afghanischer Flüchtling Ende Mai vergangenen Jahres in Mannheim einen Polizisten ermordete, hat in der deutschen Politik ein Umdenken eingesetzt.

dpa-Story: Abschiebeflug nach Afghanistan
In ihr Herkunftsland abgeschobene Afghanen stehen auf dem Flughafen von Kabul in einem Flughafenbus. © picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Im vergangenen Jahr ging ein Abschiebeflug: Was die Taliban dafür bekommen haben, ist unklar

Kurz nach dem Polizistenmord forderte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Abschiebungen nach Afghanistan. Vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen ging tatsächlich ein Abschiebeflug mit 28 afghanischen Straftätern Richtung Kabul. Was Deutschland den Taliban im Gegenzug gegeben hat, ist bis heute unklar. Seitdem gab es keine Flüge mehr.

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Von Jan Dörner, Carlotta Richter, Jörg Quoos und Sébastien Vannier

Nach dem Anschlag von München fordert CSU-Chef Markus Söder jetzt direkte Gespräche mit den Taliban über Abschiebeflüge. Auch SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese wirbt dafür. Es müsse „unser Ziel sein, Direktflüge nach Afghanistan zur Rückführung ausreisepflichtiger Asylbewerber zu ermöglichen“, sagte er unserer Redaktion. Ihm ist klar: „Das bedeutet Gespräche mit schwierigen Gesprächspartnern in Afghanistan.“

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Abschiebungen nach Afghanistan: Taliban sehen Chance, diplomatische Isolation aufzuweichen

Die Diskussionen in Deutschland werden in Afghanistan sehr genau verfolgt. Die Taliban sehen eine Chance, die diplomatische Isolation weiter aufzuweichen. Länder wie Katar, China oder Russland führen schon offizielle Gespräche mit ihnen. Jetzt könnte der innenpolitische Druck in Deutschland dazu führen, dass auch Berlin gezwungen ist, ihnen Zugeständnisse zu machen.

„Der beste Weg, die Menschenrechte derjenigen zu wahren, die abgeschoben werden sollen, also dafür zu sorgen, dass sie sicher nach Afghanistan zurückkehren, ist, direkt mit der afghanischen Regierung zu sprechen“, warb im vergangenen Juli der amtierende stellvertretende Flüchtlingsminister Muhammad Arsala Kharutai in Kabul im Gespräch mit unserer Redaktion.

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Bei dem Anschlag in München sind eine Mutter und ihr zweijähriges Kind ums Leben gekommen. © Getty Images | Johannes Simon

Aus Furcht vor dem IS: Taliban wollen Abgeschobene überprüfen

Auch der amtierende Außenminister Amir Khan Muttaqi sagte im Juli, man sei selbstverständlich bereit, afghanische Flüchtlinge zurückzunehmen, erwarte aber die Öffnung diplomatischer Gesprächskanäle. Sein Sprecher Abdul Qahar Balkhi betont auf Anfrage: „Wir sind bereit, einen umfassenden Dialog mit allen Beteiligten über Themen von gemeinsamem Interesse, einschließlich aller Aspekte der Migration, zu führen.“ Er fordert aber, dass Afghanen im Ausland wieder Zugang zu konsularischen Dienstleitungen bekommen.

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Zudem verlangen die Taliban Sicherheitsüberprüfungen derjenigen, die abgeschoben werden. Sie wollen keine Gefährder im Land, die mit dem „Islamischen Staat“ (IS) sympathisieren. Der IS steht in ideologischer Konkurrenz zu den Taliban. Immer wieder haben Attentäter in den vergangenen Jahren in Afghanistan Anschläge durchgeführt und unterminieren so das Regime. Verschlechtert hat sich aber vor allem die wirtschaftliche Situation, und das drastisch.

Bisher verzichten die Taliban auf drastische Strafen wie Amputationen

Die radikale Reduzierung westlicher Entwicklungshilfe hat die Not vergrößert. Über 90 Prozent der Menschen leben in bitterer Armut, jeder zweite Afghane leidet unter Nahrungsmittelknappheit. Zudem ist Afghanistan eines der Länder, die weltweit am heftigsten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Nach Starkregen spülen Fluten ganze Dörfer weg, viele Landesteile sind von Dürren betroffen. Und: Das Nachbarland Pakistan hat Ende 2023 begonnen, Hunderttausende afghanische Flüchtlinge in die Heimat zu deportieren. Die Taliban sind mit der Multi-Krise überfordert. Sie brauchen Unterstützung, um das Land zu stabilisieren.

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Die Taliban haben bislang auf die Wiedereinführung von Körperstrafen wie der Amputation von Gliedmaßen verzichtet, die während ihrer ersten Herrschaft gängige Praxis waren. Es gibt aber Berichte über öffentliche Auspeitschungen und Hinrichtungen.

Frauenpolitik in Afghanistan: Islamistische Bewegung ist nicht homogen

Die islamistische Bewegung ist nicht homogen. Pragmatiker und Hardliner stehen in Konkurrenz. Das gilt auch für das Thema, das die Politik im Westen am meisten umtreibt: die Diskriminierung von Frauen und Mädchen. Seit der Machtübernahme sind Frauenrechte immer weiter abgebaut worden. Das stößt auch in den eigenen Reihen auf Kritik.

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Mitte Januar sagte der amtierende stellvertretende Außenminister Sher Mohammad Abbas Stanikzai öffentlich in der Provinz Khost, Frauen und Mädchen von höherer Bildung auszuschließen, bedeute, 20 Millionen Menschen in Afghanistan Unrecht anzutun. „Wir haben sie all ihrer Rechte beraubt“, kritisierte er den immer radikaleren Kurs der in Kandahar sitzenden Taliban-Führung um das De-facto-Staatsoberhaupt Mawlawi Hibatullah Achundsada.

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Auch der amtierende Innenminister Siradschuddin Haqqani gilt als Kritiker der Frauenpolitik der Talibanführung. Er ist der Führer des Haqqani-Netzwerkes, das am radikalsten gegen die westliche Besatzung gekämpft und Hunderte Selbstmordattentäter in den Tod geschickt hat. Dass er jetzt als Pragmatiker auftritt, ist eine der vielen Widersprüchlichkeiten Afghanistans. Sein Onkel Chalil Haqqani diente zuletzt als amtierender Flüchtlingsminister und warb offensiv um die Rückkehr afghanischer Flüchtlinge. Es sei im Land wieder sicher. Mitte Dezember starb Chali Haqqani bei einem Bombenanschlag.