Jerusalem. Hamas-Führer Yahya Sinwar ist tot, im Süden Israels ist es auffällig still. Kommt jetzt der „vollständige Sieg“ über die Hamas?
Es war auffällig still am Morgen danach. Kein Luftschutzalarm weckte die Bewohner der südisraelischen Städte Sderot, Ashkelon und Ashdod, nachdem sie am Abend zuvor bei spontanen Straßenpartys den Tod von Hamas-Führer Yahya Sinwar gefeiert hatten. Nicht eine einzige Rakete wurde seither von Gaza auf Israel abgefeuert. Hat die Hamas in Gaza – oder das, was nach einem Jahr noch von ihr übrig ist – etwa schon aufgegeben?
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Mit Yahya Sinwar hat Israels Armee jenen Mann getötet, der über Israels Zivilbevölkerung das schwerste Gewaltverbrechen seit dem Holocaust gebracht hat. Aber auch jenen Machthaber, der bereit war, für den Überfall auf Israel Zehntausende Menschen in Gaza zu opfern. Sein Tod bietet mehrere Chancen – für Israel, für die Menschen im Gazastreifen, und für die Region.
Szenario 1: Israel leitet die Endphase des Gaza-Kriegs ein
Da Israels Armee einen großen Teil der Hamas-Truppen in Gaza geschlagen und nun auch ihre politische Führung ausgeschaltet hat, könnte Israels Regierung den richtigen Zeitpunkt sehen, um die Endphase des Kriegs in Gaza einzuleiten. Sinwars Tod könnte für Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der Anlass sein, um in Gaza den von ihm so oft angekündigten „vollständigen Sieg“ über die Hamas auszurufen – zumal Netanjahu nie erklärt hatte, was er konkret damit meint.
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Für dieses Szenario sprechen mehrere Gründe. Sollte Israel bereit sein, sich schrittweise aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, wäre das ein wichtiger Schritt in Richtung eines Deals zur Freilassung der Geiseln. Die letzte Verhandlungsrunde war schlussendlich daran gescheitert, dass Israels Regierung darauf beharrte, auch weiterhin militärische Stellungen am Philadelphi-Korridor im Süden Gazas zu behalten. Fällt diese Forderung nun weg, wäre das ein Türöffner für weitere Verhandlungen. Dafür braucht es allerdings auch die Bereitschaft der Gegenseite – also des Nachfolgers von Yahya Sinwar.
Wenn die Exilkräfte der Hamas nun mehr zu sagen haben, könnte das pragmatischere Ansätze in die Verhandlungen um einen Deal bringen. Von allen Zielen, die Israel sich für diesen Krieg gesteckt hat, ist die Rückführung der Geiseln jedenfalls das mit der größten Dringlichkeit: Jeder Tag könnte für die noch lebenden Geiseln der letzte sein.
Für einen baldigen Rückzug aus Gaza spricht auch die Front im Libanon. Nichts deutet darauf hin, dass der Krieg mit der Hisbollah bald geschlagen ist. Als ganz Israel den Tod Sinwars feierte, mussten die Familien fünf israelischer Soldaten der im Südlibanon kämpfenden Golani-Einheiten über den Tod ihrer Söhne verständigt werden. Immer noch verteidigt die Hisbollah ihre Stellungen in Grenznähe, und ihre Einheiten weiter nördlich ließen mit anhaltendem Raketenbeschuss Israels Luftabwehr auch am Freitag wieder auf Hochtouren arbeiten.
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Als Netanjahu in seiner Pressekonferenz am Donnerstag erklärte, Sinwars Tod sei „der Anfang vom Ende“, konnte man das so verstehen, als würde er die Chance auf einen baldigen Rückzug aus Gaza nutzen wollen. Israels Verbündete in den USA und in Europa hören das bestimmt gerne. Im selben Satz verteilte Netanjahu aber auch an die Hardliner in seiner Koalition die gewünschten rhetorischen Bonbons: „Das ist nicht das Ende des Krieges“, betonte er auch – es liege allein an der Hamas, sich zu ergeben.
Netanjahu stellte sogar mögliche Exitlösungen für abtrünnige Hamas-Kämpfer in Aussicht: Sie könnten Amnestie erlangen und sich anderswo ein neues Leben aufbauen, versprach er.
Szenario 2: Israel verstärkt den Druck auf Hamas und Hisbollah
Das zweite mögliche Szenario, das nach Sinwars Tod folgen könnte, ist eine Fortsetzung des Kriegs mit Hochdruck. Die Hardliner in Israel – auch in Netanjahus Partei – sehen gerade jetzt den falschen Moment für einen Rückzug. Sie drängen darauf, den militärischen Druck noch zu verstärken – um der symbolisch wichtigen Tötung Sinwars auch substanzielle Fortschritte im Kampf gegen die Guerilla-Einheiten im Norden des Gazastreifens folgen zu lassen.
In Gaza ist von einer Abschwächung der Kämpfe jedenfalls nichts zu bemerken. Allein in Jabaliya habe die Armee am Donnerstag „Dutzende Terroristen eliminiert“, wie ein Sprecher erklärte.
Wie Israels Streitkräfte es schaffen sollen, einen lang andauernden Krieg gegen die Hamas in Gaza, die Hisbollah im Norden, den Iran über weite Distanzen und dessen Verbündete in Syrien, dem Irak und dem Jemen zu führen – das ist ein Thema, das in Israel ungern offen diskutiert wird. Zugleich verlangt die Eskalation im Westjordanland nach anhaltend hohem Truppenaufkommen in den besetzten Gebieten.
Völlig ungewiss ist in diesem Szenario zudem das Schicksal der Geiseln. Angehörige der Verschleppten sprechen schon von einem „Todesurteil“ für ihre Familienmitglieder, sollte Israel den Tod Sinwars nicht für einen Deal nutzen. Im besten Fall gelingt es, eine Verhandlungslösung zu finden, die mehrere Fronten einschließt – also Gaza und den Libanon.