Jerusalem. Noch immer sind 101 Geiseln in der Hand der Hamas. Unter ihnen sind Mütter, Kinder und sogar Babys. Ob sie noch leben, weiß niemand.
Am kommenden Donnerstag wird Yarden Bibas 37 Jahre alt, es ist der zweite Geburtstag, den er in der Gewalt der Hamas begeht. Am 7. Oktober 2023 haben Hamas-Terroristen Yarden nach Gaza verschleppt. Getrennt von seiner Frau Shiri, dem vierjährigen Sohn Ariel und dem neun Monate alten Baby Kfir, die ebenfalls gekidnappt wurden. Seither ist fast ein Jahr vergangen.
Ein Jahr, in dem Yardens Schwester Ofri Bibas-Levy durch eine Schwangerschaft ging, von der sie ihrem Bruder nie erzählen konnte, und vor fast vier Monaten ihren Sohn Afik auf die Welt brachte. „Es ist so viel passiert“, sagt Ofri, „und trotzdem stecke ich geistig immer noch im 7. Oktober fest und komme nicht vom Fleck.“ Am schlimmsten falle ihr die totale Ungewissheit. „Nicht zu wissen, ob sie tot oder am Leben sind, ob sie gefoltert werden, ob sie Wasser bekommen, etwas zu essen haben.“ Ofri erzählt von ihrer Depression, ausgelöst durch das Schicksal ihres Bruders und seiner Familie. „Das Einzige, was mich morgens aufstehen lässt, ist mein Kampf für ihre Rückkehr.“
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Jedes Mal flackerte leise Hoffnung auf – jedes Mal platzte der Wunschtraum
Ausgerechnet dieser Kampf wird nun durch die äußeren Ereignisse gebremst. Die Angehörigen der Geiseln und die Tausenden Freiwilligen, die ihnen helfen, rufen weiter nach einer Waffenruhe in Gaza. Nun tobt aber auch im Norden des Landes ein offener Krieg mit der Hisbollah im Libanon. Jeden Tag feuert die Terrormiliz Raketen auf Israel ab. Dazu kommen Drohnen aus dem Jemen und aus dem Irak – und zuletzt 180 Raketen aus dem Iran.
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Ausgerechnet jetzt, zum ersten Jahrestag des schlimmsten Massakers an den Juden seit dem Holocaust, wo das ganze Land innehalten wollte und Ofri sich endlich in ihrer Trauer nicht so allein fühlen würde, spricht alles nur vom großen Krieg, der noch droht. Und kaum jemand denkt an die Geiseln: 101 sind immer noch in der Gewalt der Hamas. Unter ihnen Yarden, Shiri, Ariel und Kfir.
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Als Ende November 2023 mehr als 100 Geiseln durch einen Deal mit der Hamas befreit wurden und nach Israel zurückkehren konnten, standen auch das Baby Kfir, der vierjährige Ariel und die Mutter Shiri auf der Liste der Verschleppten, die im Austausch gegen palästinensische Häftlinge freigelassen werden sollten. Doch die Hamas hielt sich nicht an das Übereinkommen, der Waffenstillstand platzte, der Krieg ging weiter – und Kinder und Mutter blieben in der Gewalt der Hamas.
Danach gab es Dutzende Verhandlungsrunden über einen neuen Deal, nächtelange Gespräche in Doha, Kairo und Paris. Jedes Mal, wenn wieder jemand behauptete, man stehe kurz vor einem Abschluss, flackerte in Ofri leise Hoffnung für ihre beiden Neffen auf. Doch jedes Mal platzte der Wunschtraum. Und jetzt wird nicht einmal mehr verhandelt: Die Welt ist nur noch damit beschäftigt, die sich ausbreitenden Flammen des nahöstlichen Flächenbrands zu löschen. Keine Rede mehr davon, die seit einem Jahr wortwörtlich im Feuer Gefangenen zu befreien.
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Jedes Mal, wenn ein Auto sich ihrem Haus nähert, beginnt ihr Herz lauter zu schlagen, aus Angst, dass es Soldaten sind, die ihr die Nachricht vom Tod ihres Bruders übermitteln, sagt Ofri. Als im Libanon Tausende Pager explodierten und bald klar war, dass es ein Schlag Israels gegen die Hisbollah war, wurde Ofri nervös. Sie befürchtete, dass dadurch die Geiseln auf der Agenda weit nach unten rutschen würden. Und sie behielt recht.
„Die Hamas muss weg – für unsere Sicherheit, aber auch den Palästinensern zuliebe“
Jeden Tag telefoniert Ofri nun mit Yifat. Auch Yifat Zailer zittert um die Familie Bibas – um ihre Cousine Shiri, deren Mann und die Kinder. Auch Yifat bezieht ihre Kraft aus dem Kampf dafür, dass Israels Öffentlichkeit die Geiseln nicht vergisst und einen Waffenstillstand fordert.
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Immer wieder begegnen ihr dann Menschen, die eine Waffenruhe in Gaza ablehnen. Diese Menschen argumentieren, dass 101 Geiseln niemals den Vorrang haben könnten gegenüber Millionen Israelis, deren Sicherheit in Gefahr wäre, würde man in Gaza sofort die Waffen niederlegen. Yifat hört dann zu, zeigt Verständnis. „Diese Leute sprechen aus Angst“, sagt sie. „Und es stimmt ja: Die Hamas muss weg – für unsere Sicherheit, aber auch den Palästinensern zuliebe.“
Der 7. Oktober sei aber nicht deshalb passiert, weil Israels Armee der Hamas unterlegen sei, entgegnet Ofri. „Sondern weil im Vorfeld Fehler gemacht und Warnungen nicht ernst genommen wurden.“ Fehler, aus denen das Land und seine Verantwortlichen nun lernen werden, hoffen die beiden.
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„Sie wollen nur leben – vereint mit ihrem Vater, in Freiheit“
Laut Umfragen befürwortet eine Mehrheit der Israelis eine Waffenruhe in Gaza. „Die, die sich dagegenstemmen, sind eine radikale Minderheit, die man aber in den Medien sehr oft hört“, sagt Yifat. „Sie sitzen schließlich in der Regierung.“ Und diese Regierung tüftelt jetzt an einem Gegenschlag im Iran. Während Ofri und Yifat an ihre Angehörigen denken und wissen, „dass jede Sekunde, die vergeht, die letzte Sekunde ihres Lebens sein kann“.
Wenn Regierungspolitiker mit den Angehörigen der Geiseln sprechen und keine Journalisten dabei sind, „dann sagen sie uns, dass sie doch so wie wir für eine Waffenruhe in Gaza sind“, erzählt Yifat. „Aber dann kommt wieder die Parteipolitik ins Spiel.“
Ofri und Yifat sagen, es tue ihnen weh zu sehen, dass das Schicksal der Geiseln für politische Zwecke missbraucht wird. „Kfir und Ariel haben keine politische Meinung“, sagt Yifat über die kleinen Kinder von Yarden und Shiri. „Sie wollen nur leben – vereint mit ihrem Vater, in Freiheit.“
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