Jerusalem. Der zentrale Drahtzieher des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 ist laut israelischer Armee tot. Das bestätigte der israelische Außenminister.
Kurz vor 16 Uhr schlug die Nachricht des Militärs wie eine Bombe ein: Drei Terroristen in Gaza wurden getötet, die Armee prüfe „die Möglichkeit, dass einer der Terroristen Yahya Sinwar war“. Am Abend steht laut israelischer Regierung fest: Hamas-Chef Yahya Sinwar ist im Gazastreifen getötet worden. Sinwar, der das Mastermind hinter dem Massaker vom 7. Oktober war, war im August auch zum Chef des politischen Büros der Hamas ernannt worden – als Nachfolger des in Teheran getöteten Hamas-Führers Ismail Haniyeh. Nun folgt er Haniyeh auch in den Tod.
Es ist ein weiterer Coup der israelischen Geheimdienste, nachdem sie im Libanon bereits Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah und weitere wichtige hohe Kommandanten an der Spitze der Hisbollah ausgeschaltet hatten. Seit Wochen soll Sinwar jeden Kontakt abgebrochen haben, sich nur noch mit einer winzigen Anzahl von Vertrauten umgeben und keine mobile Kommunikation mehr genutzt haben, weil er wusste, dass Nasrallahs Schicksal auch ihn ereilen könnte.
Im Gazastreifen hatte ein solcher entscheidender Coup der Geheimdienste aber noch auf sich warten lassen. Und viele in Israel fragten sich: Will die Armee Sinwar am Leben lassen, oder hat sich der Hamas-Führer bis jetzt einfach erfolgreich jedem Versuch, ihn zu eliminieren, entzogen?
Bringt Sinwars Tod neue Verhandlungschancen für die Freilassung israelischer Geiseln?
Am wahrscheinlichsten ist, dass sein Aufenthaltsort zwar bekannt war, eine gezielte Tötung aber zu riskant gewesen wäre, weil man davon ausgehen konnte, dass er sich in der Nähe israelischer Geiseln aufhielt.
Nun gaben Armee und Inlandsgeheimdienst bekannt, dass sich aller Wahrscheinlichkeit zum Zeitpunkt des tödlichen Raketenschlags via Kampfdrohne keine Geiseln in der unmittelbaren Umgebung befanden. Gesichert ist das aber noch nicht, weitere Auswertungen sind erforderlich.
Dass der DNA-Abgleich an Sinwars Leiche rasch vonstatten gehen konnte, liegt an seiner Vergangenheit in israelischen Gefängnissen. Zu vier Mal lebenslanger Haft war Sinwar 1989 von einem israelischen Militärgericht verurteilt worden, nachdem Entführung und Mord zweier israelischer Soldaten und die Exekution von vier Palästinensern orchestriert hatte. Im Jahr 1988 kam er in Haft, wurde jedoch schon 22 Jahre später wieder entlassen. Es war ausgerechnet ein Geiseldeal, der ihn vor der lebenslangen Haft rettete. Sinwar war einer von mehr als Tausend palästinensischen Häftlingen, die im Austausch gegen den nach Gaza verschleppten israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen wurden.
Genau das war wohl auch der Plan, der hinter der Geiselnahme im Zuge des Überfalls vom 7. Oktober steckte. Sinwar wollte als jener Hamas-Führer in die Geschichte eingehen, der Israel zur Freilassung Hunderter palästinensischer Terroristen zwingt. Nach dem ersten Deal im vergangenen November, bei dem 240 Palästinenser aus der Haft entlassen wurden, kam aber kein zweites Übereinkommen zustande. Immer noch befinden sich 101 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas. Ob Sinwars Tod Bewegung in die Bemühung um eine Freilassung nach mehr als einem Jahr bringt, ist nun die große Frage. Die USA hoffen, dass Israel den Tod Sinwars als Anlass nehmen könnte, um den Krieg in Gaza für beendet zu erklären. Israels Armee hätte in diesem Szenario immer noch die Möglichkeit, gezielte Schläge gegen die Hamas durchzuführen, würde sich aber weitgehend aus Gaza zurückziehen. In der Zwischenzeit könnte versucht werden, eine alternative Führung in Gaza aufzubauen.
Hardliner in Israels Regierung fordern Wiederbesiedlung von Teilen des Gazastreifens
Die Hardliner in Israels Regierung würden sich gegen einen solchen Plan jedenfalls querlegen. Sie sprechen nicht zuletzt in der Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit lauter Stimme. Gemeinsam fordern sie eine Wiederbesiedelung von Teilen des Gazastreifens. Um auch parteiintern Druck für die dauerhafte Besatzung und völkerrechtswidrige Besiedlung von Gaza auszuüben, treten sie am kommenden Montag zu einem Kongress zusammen, der allein dem Thema des Siedlungsbaus in Gaza gewidmet ist.
Sinwar war ein Kenner der israelischen Strukturen, er sprach fließend Hebräisch und wusste sich in den von Ägypten vermittelten Verhandlungen mit Israel stets geschickt auf das Gegenüber einzulassen, um es zu täuschen. Das zeigte sich nicht nur in den Verhandlungen um einen Geiseldeal in den vergangenen Monaten. Im Jahr 2018, als Israel mit der Hamas über einen längerfristigen Waffenstillstand verhandelte, ließ er Netanjahu eine handgeschriebene Notiz zukommen, die aus nur zwei hebräischen Worten bestand: „Kalkuliertes Risiko“. Es wurde auf israelischer Seite als Appell verstanden, eine Waffenruhe zu wagen – und als Zeichen seiner Bereitschaft zu einem Stopp der Angriffe auf israelische Dörfer und Städte.
Seine Familie stammt selbst aus dem heutigen Israel: Sie waren Flüchtlinge aus der Stadt, die heute Ashkelon heißt – ausgerechnet jener Stadt, die am stärksten unter dem Raketenbeschuss der Hamas zu leiden hat. Aufgewachsen im Flüchtlingslager in Khan Junis, schloss er sich schon bald dem politischen und später dem bewaffneten Kampf an. Sein brutales Vorgehen gegen all jene Palästinenser, die er für Kollaborateure mit Israel hielt, trug ihm den Beinamen „Schlächter von Khan Younis“ ein. Nach seinem Tod stellt sich die Frage, wer ihm an der Spitze der Hamas nachfolgen wird – und was das für die stockenden Gespräche für einen neuerlichen Geiseldeal bedeuten könnte.
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