Berlin. Der SPD-Fraktionschef warnt davor, dass der Konflikt mit Russland unbeabsichtigt eskalieren könnte. Wie realistisch ist das Szenario?

Das politische Berlin hat sich bereits weitgehend in die Sommerpause verabschiedet. Im Bundestag ist die letzte Sitzungswoche beendet. Aber in der Ampelkoalition bleiben sie sich treu – und lassen keine Gelegenheit aus, strittige Fragen ganz grundsätzlich zu diskutieren. Neueste Kontroverse: die geplante Stationierung US-amerikanischer Raketen mit großer Reichweite in Deutschland.

Erstmals seit den 1990er Jahren wollen die USA hierzulande wieder Systeme stationieren, die bis tief in russisches Territorium vordringen können. So ist es unlängst am Rande des Nato-Gipfels in Washington bekanntgegeben worden. Die deutsche Regierung unterstützt die Pläne nach Kräften, sie sieht darin im Angesicht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine einen wichtigen Beitrag zur Abschreckung und damit für die Sicherheit Europas.

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SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hingegen sagte am Wochenende im Interview unserer Redaktion, man dürfe die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden. „Die Raketen haben eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue technologische Fähigkeiten“, so der Politiker. „Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich.“

Baerbock kontert Mützenich: „Müssen uns schützen“

Mützenich warnt gewissermaßen vor einem „Krieg aus Versehen“, ein altes Argumentationsmuster in der sicherheitspolitischen Debatte. Dahinter steckt die Sorge, dass eine Kriegsmaschinerie ungewollt außer Kontrolle geraten könnte und eine militärische Lage immer weiter eskaliert – ausgelöst durch Missverständnisse, durch technische Pannen oder den Umstand, dass aufgrund sehr kurzer Reaktionszeiten einmal getroffene Entscheidungen nicht mehr revidiert werden können.

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sorgt sich um die Eskalationsgefahr in Bezug auf Russland.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sorgt sich um die Eskalationsgefahr in Bezug auf Russland. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) konterte umgehend. Sie sagte dieser Redaktion, Russlands Präsident Wladimir Putin habe sein Arsenal kontinuierlich ausgebaut. „Dagegen müssen wir uns und unsere baltischen Partner schützen, auch durch verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen.“

Wie gerechtfertigt ist die Sorge von Mützenich also? Das wichtigste und größte System in der aktuellen Diskussion ist der Tomahawk-Marschflugkörper: Eine präzise Langstreckenwaffe mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern, die sowohl stationäre als auch bewegliche Ziele treffen kann. Die neuesten Versionen verfügen über eine GPS-Navigation, die auch noch Informationen während des Fluges verarbeiten kann.

Tomahawk-Marschflugkörper sind sehr schnell einsatzbereit

Der Tomahawk-Marschflugkörper kann schnell in Bereitschaft versetzt und innerhalb von Minuten gestartet werden. Die modernen Systeme benötigen weniger Zeit für die Vorbereitung und den Start. Dauerte die Vorbereitung einer Tomahawk-Mission früher bis zu 80 Stunden, kann heute innerhalb von zwei bis drei Stunden alles dafür in die Wege geleitet werden. Insbesondere die Einführung des sogenannten „Advanced Tomahawk Weapons Control Systems (ATWCS)“ hat die Startvorbereitungszeit deutlich verkürzt.

Wie ein Marschflugkörper „Tomahawk“ funktioniert.
Wie ein Marschflugkörper „Tomahawk“ funktioniert. © DPA Images | dpa-infografik GmbH

Der Marschflugkörper kann damit zügig in Bereitschaft versetzt werden. Nach der Aktivierung einer Art militärischen Startsequenz erfolgt der Abschuss dann innerhalb von drei bis vier Sekunden. Ähnlich schnell können auch die SM6-Raketen eingesetzt werden, die ebenfalls auf deutschem Boden stationiert werden sollen. Die Waffe dient primär dazu, Flugzeuge abzuwehren. Es gibt bei den SM6-Raketen eine Art dauerhaften Bereitschaftszustand, der von den diensthabenden Militärs aktiviert werden kann.

SM6-Raketen müssen in Bereitschaft versetzt werden

Im Anschluss müssen verschiedene technische Schritte für den Start der Rakete eingeleitet werden, die jedoch sich nicht für mehrere Systeme generalisieren lassen, sondern für jede Rakete einzeln aktiviert werden müssen. Erst danach können die SM6-Waffen abgefeuert werden. Insider sagen: Wenn ein militärisches Team eingespielt ist, kann dieser Abschuss aber in sehr kurzer Zeit erfolgen. 

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    Bei den Hyperschall-Flugkörpern – einer weiteren Waffe, die hier stationiert werden könnte – geht alles etwas langsamer: Die Waffen können mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit fliegen, es gibt nur wenige einsatzfähige Typen. Die Systeme brauchen aber eine klare Koordination und präzise Planungen, bis sie zum Abschuss kommen können. Das kann einige Stunden in Anspruch nehmen. Deutlich langsamer als die Tomahawk-Flugkörper.

    Militärexperte: „Mützenich hat auf theoretischer Ebene Recht“

    Der Militärexperte Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, sagte Redaktion: „Rolf Mützenich hat auf einer theoretischen Ebene recht.“ Aber er spreche nicht die Tatsache an, dass Russland seinerseits in der Enklave Kaliningrad Systeme stationiert hat, die „viele Punkte in Europa in relativ kürzester Zeit auch mit Nuklearsprengköpfen erreichen können“. 

    Die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, die ab 2026 erfolgen soll, sei im Grunde ein Instrument, „um mit Blick auf einen möglichen russischen Angriff auf das Baltikum die Abschreckung zu erhöhen“. Mit diesen Waffen könnten dann in kürzester Zeit beispielsweise Kommandozentralen in Russland zerstört werden.

    Ähnlich argumentiert der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kieswetter. Er sagte dieser Redaktion mit Blick auf die Aussagen Mützenichs: „Er verkennt den wesentlichen Sinn und Zweck von Abschreckung.“ Der SPD-Politiker übersehe zudem, „dass Russland seit vielen Jahren im konventionellen und nuklearen Bereich Flugkörper ohne Reaktion der Nato stationiert hat“.