Washington/Brüssel. Der Nato-Gipfel verschärft den Kurs gegen Russland und China. Warum Militärs so besorgt sind und was Pläne für US-Tomahawks bedeuten.

Deutschland und seine Nato-Verbündeten stellen sich auf bedrohliche Spannungen mit Russland und China ein. Mit dem Nato-Gipfel in Washington rüstet sich das Bündnis für eine massive Abschreckung gegenüber Moskau wie zuletzt im Kalten Krieg. In Deutschland sollen ab 2026 erstmals seit über drei Jahrzehnten wieder Waffensysteme stationiert werden, die Russland und seine Hauptstadt Moskau erreichen können. Aber auch China wird als potenzielle Bedrohung eingestuft. Wie ernst ist die Lage, wie rüstet die Nato auf, was können die jetzt vereinbarten Waffen? Antworten auf wichtige Fragen:

Was hat der Nato-Gipfel beschlossen?

Russland bleibe „die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner“, heißt es in der Gipfelerklärung, die die 32 Staats- und Regierungschefs beschlossen. Russland stelle für seine Nachbarn und die euroatlantische Sicherheit eine Gefahr da, die durch die Partnerschaft mit China noch erhöht werde. „Die umfassende Bedrohung, die Russland für die Nato darstellt, wird auf lange Sicht bestehen bleiben. Russland baut seine militärischen Fähigkeiten wieder auf und erweitert sie und setzt seine Luftraumverletzungen und provokativen Aktivitäten fort“, so die Erklärung.

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Die umfassende Invasion Russlands in der Ukraine habe den Frieden und die Stabilität im euroatlantischen Raum zerstört und die globale Sicherheit ernsthaft untergraben. Die Nato betont aber, sie strebe keine Konfrontation an, sei keine Bedrohung für Russland und sei bereit, Kommunikationskanäle mit Moskau aufrechtzuerhalten, um Risiken zu mindern und eine Eskalation zu verhindern.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Nato-Gipfel in Washington.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Nato-Gipfel in Washington. © DPA Images | Kay Nietfeld

Wie groß ist die Bedrohung durch Russland?

Führende Nato-Militärs sind besorgt über die laufende Aufrüstung Russlands, die begleitet wird von einer aggressiven Rhetorik des Kreml. Frühere Erwartungen, die russische Armee werde Jahre brauchen, um sich nach einem Waffenstillstand vom Ukraine-Krieg zu erholen, werden bezweifelt. Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli warnt: „Russland stellt seine Streitkraft viel schneller wieder her, als wir erwartet haben.“ Die Armee sei schon jetzt um etwa 15 Prozent größer als vor dem Angriff auf die Ukraine, die Truppe lerne schnell aus dem Kriegsverlauf und passe sich taktisch und technisch an neue Herausforderungen an – die Armee habe „wenig gemeinsam mit der chaotischen Truppe, die vor zwei Jahren in die Ukraine einmarschiert ist“, betont Cavoli.

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Bei Plänen für den Ausbau der Truppe auf 1,5 Millionen Soldaten gehe es nicht nur um neue Einheiten in den besetzten Gebieten der Ukraine, sondern auch an der Grenze zu Finnland. Die russische Kriegswirtschaft laufe, neue Rüstungsfabriken würden gebaut, sagt der Nato-Oberbefehlshaber. Die Umgehung der Sanktionen erlaube es Russland, in Hightech-Waffensysteme zu investieren.

Seine strategischen Streitkräfte hätten überhaupt keine Verluste erlitten; die Luftwaffe habe allenfalls zehn Prozent ihrer Flotte eingebüßt, die Marine habe zwar Verluste im Schwarzen Meer hinnehmen müssen, sei aber weltweit aktiv wie noch nie. Die Produktion von Präzisionsraketen habe zugenommen, außerdem kaufe Russland Raketen, Marschflugkörper und Langstreckendrohnen von Ländern wie Iran und Nordkorea. Cavoli: „Die Sicherheit der Nato ist so stark bedroht wie seit 30 Jahren nicht mehr.“ Das passt zu Warnungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), die Nato müsse auf einen möglichen russischen Angriff Ende des Jahrzehnts vorbereitet sein.

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Was haben Biden und Scholz genau vereinbart?

In Deutschland sollen zeitweise Marschflugkörper vom Typ Tomahawk und andere weitreichende Waffen stationiert werden, hieß es in einem gemeinsamen Statement der USA und Deutschlands. Die Stationierung soll 2026 beginnen, mehr als ein Jahr nach der US-Präsidentenwahl im November. Die Entscheidung könnte also rückgängig gemacht werden, falls Donald Trump nach einem Wahlsieg einen anderen Kurs einschlägt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Nato-Gipfel. Die Bundesregierung gab in Washington gemeinsam mit der US-Regierung die Stationierung neuer US-Langstreckenwaffen in Deutschland bekannt.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Nato-Gipfel. Die Bundesregierung gab in Washington gemeinsam mit der US-Regierung die Stationierung neuer US-Langstreckenwaffen in Deutschland bekannt. © DPA Images | Kay Nietfeld

Die Bekanntgabe am Rande des Nato-Gipfels sollte die Entschlossenheit der Nato gegen die russische Bedrohung in Europa demonstrieren. Es verdeutliche die Verpflichtung der USA gegenüber der Nato und sei ein Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung, hieß es in der Erklärung. Die Bundesregierung hatte dem Vernehmen nach in längeren Verhandlungen sehr für die Stationierung in Deutschland geworben. Außerhalb Europas verfügen die USA über zahlreiche andere Waffensysteme, die Russland erreichen können.

Wie erhöht die Nato ihre Abschreckung noch?

Die Möglichkeit eines Angriffs auf Verbündete könne nicht ausgeschlossen werden, erklärte der Gipfel. Die Abschreckung und Verteidigung werde weiter gestärkt, um potenziellen Gegnern jede Möglichkeit einer Aggression zu nehmen. Die Nato hatte bereits vor mehreren Jahren ihre Strategie geändert: stärkere Abschreckung Russlands durch Vorwärtsverteidigung. Dazu gehören vor allem acht multinationale, kampfbereite Einheiten im Baltikum, Polen und Südosteuropa – auch die von Deutschland geführte Brigade in Litauen.

Die Mobilisierungsfähigkeit wird deutlich erhöht: 100.000 Nato-Soldaten sollen innerhalb von zehn Tagen abmarschbereit sein, weitere 200.000 in 10 bis 30 Tagen. Verteidigungspläne weisen jedem Mitgliedstaat genaue Aufgaben in einer festgelegten Region zu, die Logistik wird stark verbessert. Die Verteidigungsausgaben der Nato-Staaten sind deutlich gestiegen und sollen weiter steigen, das Zwei-Prozent-Ziel erfüllen jetzt 23 der 32 Staaten.

Richtet Russland Marschflugkörper gegen Europa?

Ja. Russland hat einen Marschflugkörper vom Typ 9M729 (Nato-Code SSC-8), der mobil von Lastwagen aus abgefeuert werden kann, schon 2019 bei der Truppe eingeführt. Die Vorbereitungen waren der Grund für den damaligen US-Präsidenten Donald Trump, den INF-Vertrag zu kündigen, der solche Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. Nach westlichen Geheimdiensterkenntnissen sind mehrere Bataillone mit dem neuen Waffensystem im Militärbezirk West stationiert, der an die Nato-Staaten grenzt. Von dort wäre jeder Ort in Mitteleuropa binnen weniger Minuten erreichbar. In der Nato gibt es seit Längerem Bedenken, dass Russland bei konventionellen Mittel- und Langstreckenwaffen in Europa ein gefährliches Übergewicht erlangen könnte.

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Wie gefährlich ist China?

Die Nato verschärft ihren Ton auch gegenüber China: „Die Vertiefung der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und der Volksrepublik China und ihre sich gegenseitig verstärkenden Versuche, die regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben und umzugestalten, geben Anlass zu großer Sorge“, heißt es in der Abschlusserklärung des Gipfels. Die erklärten Ambitionen und Zwangsmaßnahmen Chinas „gefährden weiterhin unsere Interessen, Sicherheit und Werte.“

Angeprangert wird die Unterstützung Chinas für die russische Verteidigungsindustrie. Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagt, Peking schüre als wichtigster Unterstützter Russlands den Ukraine-Krieg, investiere gleichzeitig massiv in seine Aufrüstung, sagte Stoltenberg. Die Zahl seiner Atomwaffen steige, viele davon auf Interkontinentalraketen mit großer Reichweite, die die gesamte Nato erreichen könnten. Der Nato-Chef warnt deshalb, das Bündnis  werde im nächsten Jahrzehnt erstmals in seiner Geschichte nicht nur einem potenziellen, nuklearen Gegner gegenüberstehen, sondern zweien: Russland und China.