Berlin/Brüssel. Ungarns Premier fordert eine EU-Initiative für Frieden. Sein Zehn-Punkte-Plan ist auch eine Warnung – und er provoziert neuen Ärger.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bilanziert erstmals die von ihm als „Friedensmission“ bezeichneten Gesprächsreise zur Beendigung des Ukraine-Krieges. Als Ergebnis sieht er jetzt die EU-Staaten am Zug: Orban ruft die Staats- und Regierungschefs der Union dazu auf, mit eigenen internationalen Initiativen einen möglichen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine voranzutreiben.

Die EU sei neben den USA und China einer von drei globalen Akteuren, die die Entwicklung in dem Konflikt beeinflussen könnten, schreibt Orban in einem Brief, der unserer Redaktion vorliegt, und an EU-Ratspräsident Charles Michel gerichtet ist. Die Europäische Union müsse dazu ihre bisherige Ukraine-Politik, die nur die „Pro-Kriegspolitik der USA kopiert“, überprüfen und ein neues Kapitel zum Abbau der Spannungen aufschlagen.

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Konkret schlägt Orban vor, „hochrangige politische Gespräche“ mit China über die Modalitäten der nächsten Friedenskonferenz zu führen und zugleich direkte diplomatische Kommunikationswege mit Russland wieder zu eröffnen. Außerdem brauche es eine „koordinierte politische Offensive“ in Richtung des globalen Südens, um die globale Isolation der transatlantischen Gemeinschaft bei ihrer Position zum Ukraine-Krieg zu beenden.

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Orban: Ukraine-Konflikt wird „in naher Zukunft radikal eskalieren“

Orban hatte zuvor politische Gespräche in Kiew, Moskau, Peking und den USA geführt. Seine Treffen mit Präsident Wladimir Putin, Xi Jinping und Ex-US-Präsident Donald Trump waren von den EU-Spitzen teils scharf kritisiert worden – auch deshalb, weil Orban mitunter den Eindruck nährte, er spreche mit seinen Gastgebern im Rahmen der ungarischen Ratspräsidentschaft, also als offizieller Vertreter der EU, und nicht als Regierungschef eines relativ kleinen EU-Staates.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (links) vor seinem Gespräch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking. Orban bilanziert in seinem Schreiben, China werde erst eine aktivere Rolle bei Friedensbemühungen im Ukraine-Krieg spielen, wenn die Erfolgsaussichten nahezu sicher seien.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (links) vor seinem Gespräch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking. Orban bilanziert in seinem Schreiben, China werde erst eine aktivere Rolle bei Friedensbemühungen im Ukraine-Krieg spielen, wenn die Erfolgsaussichten nahezu sicher seien. © DPA Images | Li Xueren

Der Konflikt spitzt sich zu, weil Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Boykott bestimmter EU-Treffen angekündigt hat, die unter der laufenden Ratspräsidentschaft in Ungarn stattfinden sollten. In seinem Zehn-Punkte-Schreiben zieht Orban eine eher düstere Bilanz seiner Gespräche: Die Intensität des militärischen Konflikts werde „in naher Zukunft radikal eskalieren.“ Er habe persönlich erlebt, dass die Kriegsparteien entschlossen seien, den Konflikt zu intensivieren.

Keine Seite wolle Initiativen für einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen ergreifen. Ohne Einmischung von außen würden Russland und die Ukraine nicht nach einem Ausweg aus dem Konflikt suchen. Mit Blick auf China meint Orban, Peking werde weiter einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen fordern, doch werde die chinesische Regierung nur dann eine aktivere Rolle spielen, wenn die Erfolgsaussichten des Engagements „absolut sicher“ sind.

Viktor Orban: Trump hat detallierte Pläne für Friedensvermittlung

Die USA seien derzeit sehr mit dem Präsidentschaftswahlkampf beschäftigt: Präsident Joe Biden werde seine Kriegspolitik nicht ändern, auch von seinem Herausforderer Donald Trump sei bis zu den Wahlen keine Friedensinitiative zu erwarten. Doch setzt Orban nach seinem jüngsten Treffen mit Trump große Hoffnungen in den Präsidentschaftskandidaten: „Ich kann mit Sicherheit sagen, dass er kurz nach seinem Wahlsieg nicht bis zu seiner Amtseinführung warten wird, sondern sofort bereit sein wird, als Friedensvermittler aufzutreten“, schreibt Orban. „Dafür hat er detaillierte und fundierte Pläne“.

Details nannte der Premier nicht, warnte jedoch, Trump werde von den Europäern eine höhere Beteiligung an den westlichen Finanzhilfen für die Ukraine verlangen. Orbans Schreiben traf bei EU-Ratspräsident Michel ein, bevor sich der Streit mit führenden Politikern in Brüssel zuspitzte. Michel und ebenso die EU-Kommission hatten mehrfach gewarnt, Orban spiele mit seinen Reisen ohne Mandat der EU der Propaganda Russlands und Chinas in die Hände.

Überraschend teilte ein Sprecher der Kommission in Brüssel mit, wegen Orbans Alleingängen würden von der Leyen und ihre Kommissare nicht zum üblichen Antrittsbesuch bei der ungarischen Ratspräsidentschaft nach Budapest reisen. Es würden auch keine Kommissare zu informellen Treffen der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft entsendet, sondern lediglich ranghohe Beamte. Bei den informellen Treffen handelt es sich um Beratungen auf Ministerebene meist im Land der Ratspräsidentschaft, bei denen keine formellen Beschlüsse gefasst, sondern Themen zunächst nur diskutiert werden.

Ungarns Fidesz-Partei empört über Boykott-Aufruf von der Leyens

Die entscheidenden Minister-Räte tagen dann in Brüssel oder Luxemburg, sie sind vom Boykott nicht betroffen. Ein für Ende August in Budapest geplantes informelles EU-Außenministertreffen wird möglicherweise nach Brüssel verlegt. Die Kommission folgt mit ihrem Schritt den Ankündigungen aus mehreren EU-Hauptstädten. Die ungarische Regierung reagierte empört: „Die EU-Kommission kann sich nicht Institutionen und Minister aussuchen, mit denen sie kooperieren will“, kritisierte Ungarns Minister für EU-Angelegenheiten, Janos Boka.

„Sind alle Beschlüsse der Kommission nun auf politische Erwägungen gegründet?“, fragte Boka. Abgeordnete von Orbans Fidesz-Partei im EU-Parlament erklärten, der Schritt sei offensichtlich ein Versuch von der Leyens, vor der Abstimmung über ihre zweite Amtszeit am Donnerstag noch Parlamentarier auf ihre Seite zu ziehen. Im Parlament gibt es bereits Debatten, ob Orban wie üblich zum Meinungstausch über die Prioritäten der Ratspräsidentschaft eingeladen werden sollte.