Brüssel. Ursula von der Leyen will als Kommissionschefin im EU-Parlament wiedergewählt werden – doch ihre Mehrheit bröckelt. Aus zwei Gründen.

Für Ursula von der Leyen kommt die Stunde der Wahrheit: Am Donnerstag stellt sich die 65-Jährige im EU-Parlament zur Wiederwahl als Kommissionspräsidentin. Ein knappes Ergebnis wird vorausgesagt, von der Leyen kämpft hinter den Kulissen in vielen Gesprächen um die Unterstützung der Abgeordneten. Doch auf den letzten Metern wird der Gegenwind heftig: Der Streit über das Verbrennerverbot dürfte die Präsidentin Stimmen kosten. Und ausgerechnet das oberste EU-Gericht könnte der deutschen Christdemokratin noch einen Strich durch die Rechnung machen.

Der Grund: Am Mittwoch, einen Tag vor der Abstimmung, entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem ersten Verfahren im Zusammenhang mit der umstrittenen Corona-Impfstoffbeschaffung der Kommission, für die von der Leyen auch persönlich verantwortlich ist. Es geht um die Klage von fünf Europaabgeordneten der Grünen, die Zugang zu den Corona-Impfstoffverträgen der Kommission mit den Pharmaunternehmen fordern.  

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Von der Leyens Behörde hatte dem EU-Parlament die Verträge nur mit umfangreichen Schwärzungen zugeleitet, was damals breiten Protest provozierte. Die Kläger, darunter die deutsche Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus, erklärten, mit diesen Eingriffen sei es unmöglich, den Inhalt der Vereinbarungen nachzuvollziehen – vor allem wollten sie Details zu den Preisen und der Haftung.

Corona: Zwei Klagen könnten von der Leyen das Vertrauen kosten

Eine zweite Klage stammt von zwei Rechtsanwälten aus Frankreich, die im Namen von 86.000 Unterzeichnern einer Petition Zugang und weitere Informationen zu den Verträgen verlangen. Sollten die Luxemburger Richter den Klagen stattgeben und die Schwärzungen für unvereinbar auch mit den Informations- und Kontrollrechten des Parlaments erklären, wäre das keine gute Ausgangslage für von der Leyen, die am Tag darauf um das Vertrauen der Abgeordneten bittet.

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Noch brisanter: Das Urteil ist nur der Auftakt zur Klärung viel größerer Streitigkeiten rund um die Covid-19-Vakzine, die den Abgeordneten nun wieder präsent werden: Wegen der Impfstoffbeschaffung der Kommission ermittelt neben der belgischen Justiz auch die Europäische Staatsanwaltschaft – beide auch wegen Vorwürfen, die sich persönlich gegen von der Leyen richten.

Vor einem belgischen Gericht geht es in einer Klage explizit um den Vorwurf des Amtsmissbrauchs, der Vernichtung von Dokumenten und der Korruption gegen von der Leyen im Zusammenhang mit dem gigantischen Biontech-Impfstoffdeal über 35 Milliarden Euro – dieses Geschäft hatte die Kommissionschefin 2021 offenbar direkt mit dem Chef des US-Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, eingefädelt.

„New York Times“ klagt auf Einsicht in die SMS von der Leyens

Bereits der Europäische Rechnungshof hatte in einem Prüfbericht kritisiert, von der Leyen habe an Verfahrensregeln vorbei den Pfizer-Deal selbst vorverhandelt, gebe aber keine Auskünfte dazu. Bis heute schweigt von der Leyen eisern – und reagiert auch nicht auf Forderungen nach einer Offenlegung der SMS, die sie mit Bourla ausgetauscht haben soll. Dies ist Gegenstand eines weiteren Gerichtsverfahrens beim EuGH: Die „New York Times“ klagt auf Einsicht in die Kurznachrichten, auch diese Entscheidung steht noch aus.

Der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese stellt sich hinter von der Leyen.
Der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese stellt sich hinter von der Leyen. © CDU | cdu

Von der Leyens Parteifreunde stellen sich in dem Konflikt hinter sie: „Ich bin nicht sicher, was in den SMS stand und was Ursula von der Leyen mit Bourla besprochen hat – aber sie war erfolgreich und hat getan, was die Bürger erwarteten“, sagt der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese. „Sich zu kümmern lag in ihrer Verantwortung, das ist nicht zu kritisieren.“ Der Christdemokrat warnt: „Scheitert von der Leyen bei der Wahl, würden sich nur Orban und Putin freuen – denen sollten wir kein Geschenk machen.“

Auf dieser Linie suchen die Christdemokraten jetzt die Reihen zu schließen: Von der Leyen oder Chaos ist die Parole. Die Fraktionsführung ist nervös, von der Leyens Wahl gilt zwar als wahrscheinlich, aber alles andere als sicher. Theoretisch hätte das informelle Bündnis von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, das die Kommissionspräsidentin im Parlament gemeinsam im Amt bestätigen will, eine sichere Mehrheit von 401 der 720 Abgeordneten. Aber es gibt keinen Fraktionszwang, mit 40 bis 60 Abweichlern ist nach einer alten Faustregel zu rechnen.

Von der Leyen muss wegen Abweichlern um Mehrheit bangen

Dann wäre die erforderliche absolute Mehrheit von 361 Stimmen dahin. Schon 2019 erhielt von der Leyen nur neun Stimmen mehr als nötig. Bei den Christdemokraten haben französische Abgeordnete bereits ihre Ablehnung angekündigt. Auch bei den Liberalen und Sozialdemokraten ist der Rückhalt brüchig. Von der Leyen sucht deshalb bei den Grünen Unterstützung und spricht mit der rechtspopulistischen EKR-Fraktion, bei der aus der Ferne Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni die Strippen zieht.

Das alles nötigt der Kommissionspräsidentin einen inhaltlichen Spagat ab, an dem sie nur scheitern kann. Beim Symbolthema Verbrennerverbot ab 2035, das von der Leyen einst auf den Weg gebracht hatte, versprechen von der Leyens Christdemokraten die Rücknahme des Verbots, unterstützt von Liberalen und EKR. Grüne und Sozialdemokraten wehren sich vehement. Von der Leyen laviert. Auch das kostet Glaubwürdigkeit. Bei den Liberalen drohen Abgeordnete nun sogar wieder offen damit, die Präsidentin nicht zu wählen.

Viele werden eher zähneknirschend denn aus Überzeugung für sie stimmen – und manche schwanken bis zuletzt. In dieser Stimmungslage gewinnt die bevorstehende Entscheidung des EU-Gerichts plötzlich größere Bedeutung, weil sie einen sensiblen Punkt bei den Abgeordneten trifft: Respektiert von der Leyen die Rechte des Parlaments ausreichend? Zweifel daran gab es immer wieder. Sollten die Luxemburger Richter urteilen, dass von der Leyen den Abgeordneten zu Unrecht Informationen aus den Impfstoffverträgen verwehrt hat, könnte das die Präsidentin entscheidende Stimmen kosten.