Washington. Die Rebellion bei den Demokraten gegen ihren Präsidentschaftskandidaten wird brutal. Immer mehr Unterstützer gehen ihm von der Fahne.

Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Und der amerikanische Präsident seit 75 Jahren sein Anführer. Auf wirksamen Beistand der 31 Partnerländer kann Joe Biden nach der weltweit mit Argusaugen verfolgten Pressekonferenz beim Nato-Jubiläumsgipfel am Donnerstagabend in Washington trotzdem nicht zählen.

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Nach dem TV-Duell mit Donald Trump vor zwei Wochen muss der 81-Jährige um seine Kandidatur für die Wahl im November kämpfen. Schon vor dem Auftritt des 81-Jährigen, der in freier Rede seine mentale Fitness unter Beweis stellen will, haben die Demokraten ihren eigenen Präsidenten so unter Beschuss genommen, dass „es wohl nur noch eine Frage der Zeit ist, wann der politische Todesstoß kommt“, sagte ein EU-Diplomat am Rande des Gipfels dieser Zeitung.

Wenn der Nato-Tross abgezogen ist, „wird es kein Halten mehr geben“

Soll heißen: „Losgelöst von Bidens Vorstellung hat ein nennenswerter Teil des Parteiestablishments dem Präsidenten das Vertrauen entzogen.“ Wenn der Nato-Tross an diesem Freitag abgereist ist, so demokratische Funktionäre in Washington, „wird es kein Halten mehr geben“.

Da Schlüsselfiguren wie Nancy Pelosi, die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Chuck Schumer, der Mehrheitsführer im Senat, sowie Hakeem Jeffries, der starke Mann der Demokraten im Repräsentantenhaus, bisher allenfalls zögerliche Solidaritätsadresse für Biden abgeben, wird davon ausgegangen, dass aus den Unmutsbekundungen und Rücktrittsforderungen Einzelner schnell eine „offene Rebellion wird“.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirkte auf viele Teilnehmer des Nato-Gipfels in Washington entschieden siecher als Joe Biden. Aber der starke Mann in Ankara hat keine Partei im Nacken, die in weiten Teilen nicht mehr an ihn glaubt.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirkte auf viele Teilnehmer des Nato-Gipfels in Washington entschieden siecher als Joe Biden. Aber der starke Mann in Ankara hat keine Partei im Nacken, die in weiten Teilen nicht mehr an ihn glaubt. © action press | Ting Shen

Mit dem klaren Ziel, Biden dazu zu bringen, seine rund 4000 Delegierten für den Parteitag in Chicago zu entbinden, für ihn zu stimmen, und so den Weg für eine Last-Minute-Alternative freizumachen.

Dahinter steht die eskalierende Angst, dass Joe Biden im November gegen Trump auf verlorenem Posten stehen könnte. In Umfragen wird der landesweite Vorsprung Trumps vier Monate vor der Wahl größer – bis zu sechs Prozentpunkte. Noch wichtiger: In den Swing States Pennsylvania, Michigan, Arizona, Nevada, Wisconsin, Georgia und North Carolina, die mutmaßlich am 5. November wahlentscheidend sein werden, zieht Trump ebenfalls allmählich davon. Zum ersten Mal seit 20 Jahren liegt mit Trump der Herausforderer eines amtierenden Präsidenten zu diesem Zeitpunkt klar vorn, stellt der als seriös bekannte „Cook Report“ fest.

Der demokratische Senator Michael Bennet sagt nüchtern: „Ich glaube, dass Donald Trump auf dem besten Weg ist, diese Wahl zu gewinnen, vielleicht sogar erdrutschartig, und dass dabei auch das Repräsentantenhaus und der Senat verloren gehen.“

Bidens wichtigste Berater versuchen Senatoren bei Krisentreffen umzustimmen

Das Weiße Haus, aus dem zuletzt viele unvorteilhafte Details über die körperliche und geistige Verfassung des ältesten Präsidenten in der US-Geschichte an Medien durchgestochen wurden, will von dem Untergangsszenario nichts wissen. Biden-Vertraute wie Jen O‘Malley Dillon, Mike Donilon und Steve Ricchetti versuchten am Donnerstag bei einem Krisentreffen etliche Senatoren davon zu überzeugen, dass Biden sehr wohl einen realistischen Weg zu 270 Stimmen im Wahlmännergremium vor sich habe – wenn man sich denn nur gemeinsam schleunigst auf den eigentlichen Gegner konzentrieren würde: Donald Trump.

Vor drei Wochen bei einer Spendengala in Los Angeles war Barack Obama (re.) noch voll an Joe Bidens Seite. Inzwischen macht sich der ehemalige Präsident mit positiven Äußerungen über seinen früheren Vize auffällig rar.
Vor drei Wochen bei einer Spendengala in Los Angeles war Barack Obama (re.) noch voll an Joe Bidens Seite. Inzwischen macht sich der ehemalige Präsident mit positiven Äußerungen über seinen früheren Vize auffällig rar. © ERIN SCHAFF/The NewYorkTimes/Redux/laif | ERIN SCHAFF/The NewYorkTimes/Red

Daran zu glauben, erfordert von Biden jedoch über die kommenden Wochen bei Live-Veranstaltungen regelmäßig ohne technische Hilfsmittel unter Beweis zu stellen, dass die Pleite im TV-Duell gegen Trump ein einmaliges, krankheitsbedingtes Versagen war. „Ich sehe wirklich nicht, wie das gelingen soll“, sagte ein Abgeordneter im Kapitol. Bleibt die Frage: Wer hätte am Ende die Statur, die Glaubwürdigkeit und den Einfluss, den bisher beharrlich an seiner Kandidatur festhaltenden Präsidenten von einer Umkehr zu überzeugen? Viele Finger bei den Demokraten zeigen auf seinen früheren Chef, Barack Obama. Der Ex-Präsident hatte zu Beginn der Krise vor 14 Tagen noch diese Parole ausgegeben: Eine schlechte Debattennacht, hey, das kann jedem passieren.

Obama hat George Clooney nicht gestoppt, den Rückzug von Biden zu fordern

Inzwischen schweigt Obama, aber das sehr laut. Nach Angaben von Insidern versuchte er seinen guten Freund und Großspender für demokratische Angelegenheiten, Hollywoodstar George Clooney, nicht davon abzubringen, in der „New York Times“ einen flammenden Appell zu veröffentlichen, in dem Joe Biden unmissverständlich zum Abdanken aufgefordert wird.