Berlin. Der bisherige Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch über den Niedergang der Linkspartei und ein wehmütiges Telefonat um Mitternacht.
Versetzt Sahra Wagenknecht der Linken den Todesstoß? Ihr neues Bündnis hat die Liquidierung der Linken-Bundestagsfraktion ausgelöst. Zwei Gruppen werden an ihre Stelle treten. Der bisherige Fraktionschef Dietmar Bartsch (65) sagt im Interview, wie er jetzt mit Wagenknecht umgeht.
Die Fraktion, die Sie acht Jahre führten, hat sich an Nikolaus aufgelöst. Wie ist Ihnen zumute, Herr Bartsch?
Dietmar Bartsch: Das ist schon ein historisches Ereignis. Tragisch ist es vor allem für die vielen Beschäftigten, die wissen, dass unter dem Weihnachtsbaum eine Kündigung liegen wird. Ansonsten war der 6. Dezember für mich ein Termin, der lange angekündigt war. Er bietet auch die Chance, dass wir mit der quälenden Selbstbeschäftigung aufhören. Aber: Es ist eine schwere Niederlage, dass wir nicht mehr mit einer Fraktion im Deutschen Bundestag vertreten sind.
Was haben Sie getan, als es soweit war?
Punkt Mitternacht? Ich habe mit Gregor Gysi telefoniert. Er hatte mich gefragt, ob wir das machen wollen. Erst habe ich gesagt: Lieber nicht, ich bin am nächsten Morgen ab 7 Uhr im Fernsehen. Dann habe ich mich aber entschlossen, um null Uhr anzurufen. Wir haben kurz geredet, ein klein wenig Rückblick. Es war 1991, als ich zur PDS ging. Das war eine Situation, in der selbst beste Freunde sagten: Du hast doch einen schweren Schaden! Die PDS ist tot, da passiert nichts mehr. Gregor Gysi war damals Parteichef, ich wurde Schatzmeister. Und wir haben es geschafft, gegen alle Prophezeiung. Das muss uns jetzt wieder gelingen.
Wie groß ist Ihre Wut auf Sahra Wagenknecht?
Wut auf Sahra Wagenknecht habe ich nicht. Ich finde es falsch und unverantwortlich, was sie tut. Man hätte anders um Mehrheiten kämpfen müssen. Sie hat die Fraktion letztlich leichtfertig beendet. Aber nein, Wut ist das nicht.
Würden Sie mit Wagenknecht noch ein Glas Rotwein trinken?
Für Rotwein sind meine Termine aktuell ausgebucht. Aber natürlich spreche ich noch mit Sahra Wagenknecht. Alles andere wäre auch irre. Wir waren zusammen Spitzenkandidaten und haben 2017 mit 9,2 Prozent ein herausragendes Ergebnis bei der Bundestagswahl erzielt. Ein Gespräch ist im Moment allerdings schwierig, weil sie relativ selten da ist.
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Welchen Anteil hat Oskar Lafontaine, Wagenknechts Ehemann, an der Zerstörung der Linken?
Die Linke ist nicht zerstört, sie ist in einer Krisensituation. Und daran ist der Anteil von Oskar Lafontaine nicht gering. Er hat zwar gesagt, dass er die Parteigründung der Wagenknechtpartei als Ehemann nicht begrüßt. Aber politisch begrüßt er das sehr wohl. Ohne ihn würde Sahra Wagenknecht viele Dinge nicht tun.
Sind Sie sicher, dass Wagenknecht der Linken nicht den Todesstoß versetzt?
Absolut. Wir müssen möglichst schnell Gruppe werden im Bundestag und die soziale Opposition zur Ampel sein. Und die drei Landesregierungen, in denen wir Verantwortung tragen – Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Bremen – bleiben natürlich stabil.
Sehen Sie auch eigenes Versagen?
Es wäre kurios, jetzt zu behaupten, man habe keine Fehler gemacht und nicht mitversagt. Ich habe alles versucht, die Fraktion zusammenzuhalten. Damit bin ich am Ende des Tages gescheitert.
Sie haben gute Chancen, wenn der Verlierer des Jahres gekürt wird.
Nein. Da würde ich auch vehement widersprechen. Der Maßstab ist, was man politisch bewegt hat. In meiner Heimat in Mecklenburg-Vorpommern haben wir eine stabile rot-rote Koalition, ich habe den Koalitionsvertrag mitverhandelt. Für die Situation jetzt, für die Auflösung der Bundestagsfraktion, tragen andere eine größere Verantwortung.
Woran liegt es, dass die Linke von einer Wahlniederlage zur nächsten stolpert?
Die Linke in Europa ist insgesamt in einer schwierigen Situation. Für unsere Niederlagen gibt es eine Vielzahl von Gründen – nicht nur die Selbstbeschäftigung, die wesentlich Sahra Wagenknecht ausgelöst hat. Unser Erfurter Parteiprogramm ist in die Jahre gekommen. Wir haben gewaltige Veränderungen in der Gesellschaft, die von uns nicht aufgearbeitet wurden. Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie für linke Politik verheerender war als für andere.
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Wie kommen Sie darauf?
Wir leben vom Kontakt zu den Menschen vor Ort. Wir werden medial nicht gleichberechtigt behandelt.
Machen Sie es sich da nicht zu einfach?
Unser zentrales Pfund war immer das Gespräch vor Ort. Das war in der Pandemie nicht mehr möglich.
Eine Erklärung für den Niedergang könnte auch sein, dass sich die SED-Nachfolgepartei 33 Jahre nach der Wiedervereinigung überlebt hat.
Wir haben uns vielfach gewandelt und erneuert. Der Schritt von der Staatspartei SED zur PDS war schon ein gewaltiger. Ich glaube, keine Partei hat mehr für Aufarbeitung der Geschichte getan als wir. Mit der Linken, der Fusion von PDS und WASG, ist nochmal ein qualitativer Schritt gemacht worden. Die Auflösung der Fraktion ist jetzt ein neuer Einschnitt. Wir müssen uns fragen, wie wir wieder attraktiver werden können.
Ich werbe sehr dafür, dass wir die ostdeutsche Interessenvertretung weit nach vorne stellen. Die Linke muss wieder Volkspartei werden, im ganzen Osten. Ostdeutsche verdienen im Jahr im Schnitt 13.000 Euro weniger als Westdeutsche. In keinem westdeutschen Bundesland gibt es auch nur einen Minister aus dem Osten. Es gibt aber im Osten eine ganze Kavallerie von West-Ministern. Ähnlich sieht es bei öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern oder in Regionalzeitungsredaktionen aus.
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Plädieren Sie für eine Ost-Quote?
Ich appelliere an die Ostdeutschen, mehr Selbstbewusstsein zu zeigen. Quoten sind immer Krücken. Aber wir sehen bei der Frauenquote, dass sie sehr wohl hilfreich ist. Ich bin offen dafür, über eine Ost-Quote in bestimmten Bereichen zu diskutieren. Das Grundgesetz schreibt im Übrigen eine angemessene Vertretung der einzelnen Bundesländer in Regierungsämtern vor. Das ist nicht der Fall. Angela Merkel war Ostdeutsche, hatte aber überhaupt keine Minister aus dem Osten. Und jetzt müssen Klara Geywitz und Steffi Lemke herhalten, um einen Schein zu wahren.
Was können Sie im Bundestag bewegen ohne Fraktionsstatus?
Wir waren schon zweimal Gruppe und sind danach wieder Fraktion geworden. Wir werden weiterhin eine Vielzahl von Rechten haben. Als Abgeordnete können wir der Bundesregierung jede Frage stellen und Dinge anprangern. Aktuell tut es doch der parlamentarischen Demokratie nicht gut, wenn drei Herren – Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister – über den Haushalt entscheiden und die Regierungsfraktionen das nur noch abnicken.
Wie würden Sie das Haushaltsloch schließen?
Dieses Loch ist nicht so gewaltig. Für das nächste Jahr sind das 17 Milliarden, die man hinkriegen kann. Ich würde den Verteidigungsetat von Sparmaßnahmen nicht ausnehmen. Und ich würde nicht nur über Kürzungen diskutieren. Wenn wir den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen, steigen die Steuereinnahmen. Dann könnten wir zum Beispiel eine Kindergrundsicherung einführen, die diesen Namen verdient und hätten nicht diese Krücke von Lisa Paus.
Sie würden das Haushaltsloch eher noch vergrößern.
Nein. Es wird höchste Zeit, die Superreichen stärker zu beteiligen. Es kann doch nicht sein, dass in dieser Krise in Deutschland die Zahl der Milliardäre steigt. Ein Vermögen von einer Milliarde oder mehr ist schlicht obszön und niemals auch nur ansatzweise leistungsgerecht.
Sie träumen von Enteignung.
Nein, es geht um angemessene Beteiligung, die für den Zusammenhalt im Land enorm wichtig ist. Ich würde eine einmalige Vermögensabgabe erheben – wie das Konrad Adenauer nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Jahre auch gemacht hat.
Wer soll wie viel abgeben?
Es geht um Privatpersonen mit einem Nettovermögen von mehr als zwei Millionen Euro beziehungsweise Betriebsvermögen oberhalb von fünf Millionen. Und nur um das Vermögen oberhalb dieser gewaltigen Summen. Also um die reichsten 0,7 Prozent der Bevölkerung. Wir könnten so langfristig mehr als 300 Milliarden Euro einnehmen und würden die Superreichen gewiss nicht überfordern. Dass stattdessen über Sozialkürzungen diskutiert wird, halte ich für unanständig.
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Wie weit ist die Linkspartei von der Regierungsfähigkeit entfernt?
Die Frage der Regierungsfähigkeit auf Bundesebene stellt sich für die Linke aktuell nicht. Wir haben die Aufgabe, überhaupt wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag zu kommen. Das Palavern über Regierungsverantwortung sollte mindestens bis nach der Bundestagswahl 2025 ausgesetzt werden.
Ist Ihr Traum von Rot-Rot-Grün verflogen?
Der ist so tief in der Kiste, dass ich darüber überhaupt nicht nachdenke.
Herr Bartsch, wissen Sie, was am 1. April sein wird?
Am 31. März habe ich Geburtstag. Das wird dann der Tag sein, an dem ich ganz theoretisch zum ersten Mal Anspruch auf Rente hätte.
Sie denken nicht ans Aufhören.
Das ist für mich aktuell weit weg. Ich will einen Beitrag leisten, dass die Linke bei der Bundestagswahl 2025 den Einzug in das Parlament schafft. Eine Karriereplanung habe ich nicht mehr.
Kandidieren Sie 2025 noch einmal?
Viele drängen mich dazu. Mein Freund Gregor Gysi macht das in besonderer Weise. Es wäre allerdings vermessen, jetzt darüber zu reden.