Essen. Industrie und IG Metall warnen: Ohne günstigeren Strom drohen Pleiten und Verlagerungen. Grüne im Bundestag wundern sich über Kanzler Scholz.
Dass die Energiekrise die energieintensiven Betriebe besonders trifft, versteht sich von selbst. Die Klagen insbesondere der Chemie- und der Stahlindustrie waren nicht zu überhören, auch nicht ihre Warnungen, die Produktion ansonsten ins Ausland zu verlagern. Sie mündeten im Plan des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck für einen verbilligten Industriestrompreis. Dass Habeck mit seinem Vorstoß nun ziemlich allein dasteht, bereitet der Industrie in NRW zunehmend Sorgen.
Der grüne Wirtschaftsminister schlug vor, den Industriestrompreis bis 2030 für 80 Prozent des bisherigen Verbrauchs bis 2030 auf sechs Cent zu deckeln. Die SPD hatte einen staatlich geförderten Industriestrompreis von vier Cent je Kilowattstunde (kWh) schon im Bundestagswahlkampf gefordert, also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine und seinen Folgen für die Energiepreise. Die Union pocht in der Opposition nun auf die Einhaltung dieses Versprechens. Die Grünen standen dem lange kritisch gegenüber, rangen sich nun dazu durch, getrieben auch von der SPD. Doch seitdem deren Kanzler Olaf Scholz skeptisch reagierte und FDP-Finanzminister Christian Lindner den Daumen senkte, stockt die Debatte.
Grünen-Politiker Banaszak irritiert über Kanzler Scholz
„Es hat schon eine gewisse Ironie, dass es jetzt ausgerechnet die Grünen sind, die sich als verlässlichster Partner der energieintensiven Industrien und ihrer Beschäftigten zeigen“, sagte Felix Banaszak, grüner Energiepolitiker aus Duisburg im Bundestag, unserer Zeitung. Er sei „etwas irritiert, dass der Bundeskanzler erst mit einem Industriestrompreis Wahlkampf macht, hohe Erwartungen weckt und sich dann an nichts erinnern kann, wenn ein grünes Konzept dafür auf dem Tisch liegt“. Dies, obwohl sich die Lage für die Industrie seitdem noch einmal deutlich verschlechtert habe.
Auch SPD-Wirtschaftspolitiker halten trotz der Kanzler-Skepsis am Industriestrompreis fest, vor allem, wenn sie aus NRW kommen. „Gerade Südwestfalen als Industrieregion Nummer eins in NRW würde davon enorm profitieren. Ein Industriestrompreis ist richtig und wichtig, weil er dabei hilft die Wettbewerbsfähigkeit und damit die gut bezahlten Arbeitsplätze unserer heimischen Industriebetriebe langfristig zu sichern“, betonte der Hagener SPD-Abgeordnete Timo Schisanowski auf Anfrage.
Aktuell liegt der Industriestrompreis in Deutschland um die 20 Cent je kWh und damit europaweit mit Italien an der Spitze. Frankreich hat den Preis für Großverbraucher auf vier Cent gedeckelt, in den USA und China ist Strom ähnlich günstig. Darauf, sprich auf ihren Wettbewerbsnachteil weisen regelmäßig die Chemie-, Stahl-, Papier-, Aluminium- oder die Zementindustrie in Deutschland hin. Entsprechend viel Lob gab es aus ihren Verbänden und den Industriegewerkschaften für Habecks Plan. Im Ruhrgebiet ächzen aber nicht nur die Stahlriesen Thyssenkrupp und HKM in Duisburg, die Deutschen Edelstahlwerke in Witten oder die Aluhütte Trimet in Essen, sondern auch Zulieferer für die Ökostromindustrie wie Eickhoff in Bochum und das Windkraftgetriebewerk ZF in Witten.
Zudem sehen sich Autozulieferer in Südwestfalen bedroht, die ebenfalls viel Strom verbrauchen, aber nicht genug, um als energieintensiv zu gelten. Dafür müssten ihr Stromkostenanteil am Umsatz über 15 Prozent liegen. Habecks Pläne würden die meisten mittelständischen Betriebe gar nicht erreichen, beklagt Ralf Stoffels, Präsident der Industrie- und Handelskammern in NRW. Auch, dass Habecks Regelung nur tarifgebundenen Unternehmen gewährt werden solle, sei ein „ungerechtfertigter regulativer Eingriff“, der viele Mittelständler, etwa mit Haustarifen, außen vor lasse. Deshalb fordert er einen Industriestrompreis, der für alle Betriebe gilt.
IHK-NRW-Präsident: Vielen Mittelständlern droht Insolvenz
Stoffels führt selbst ein großes Industrieunternehmen, die BIW Isolierstoffe GmbH in Ennepetal. Als IHK-NRW-Chef warnt er: „Wenn keine Deckelung des Industriestrompreises gelingt, befürchte ich, dass vielen mittelständischen Zulieferern, die ihre höheren Kosten nicht an ihre Kunden weitergeben können, die Insolvenz droht.“ Wer stark genug ist, werde stärker über Abwanderung nachdenken und wer bereits im Ausland produziert, werde dies zu Lasten des Standorts Deutschland ausbauen. Denn wer aktuell neue Strombezugsverträge verhandle, müsse mit einer Verdreifachung des Preises im Vergleich zur Vorkrisenzeit rechnen.
Bereits Habecks Plan nur für energieintensive Industrien droht allerdings an den hohen Kosten von 25 bis 30 Milliarden Euro bis 2030 zu scheitern. Das und die ungleiche Behandlung von Schwerindustrie und anderen produzierenden Betrieben kritisieren Ökonomen, die FDP – und indirekt auch Scholz. „Denn als Volkswirtschaft werden wir es auf Dauer nicht durchhalten, alles was an normaler wirtschaftlicher Tätigkeit stattfindet, zu subventionieren. Das sollten wir uns auch gar nicht angewöhnen“, sagte er kurz nach Bekanntwerden von Habeck Plan. Womit er nicht nur grünen, sondern auch SPD-Wirtschaftspolitikern im Bundestag vor den Kopf stieß. Immerhin hatte Scholz 2021 im Wahlkampf für einen Industriestrompreis von vier Cent geworben.
IG-Metall-Chef Giesler: Ganze Industriezweige in Gefahr
Daran erinnern sich auch die Gewerkschaften IGBCE und IG Metall. „Der hohe Strompreis gefährdet Industriearbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen, besonders in energieintensiven Bereichen wie der Stahl- oder Aluminiumindustrie“, betont Knut Giesler, IG-Metall-Chef in NRW. Als mahnendes Beispiel nennt er die Neusser Aluhütte Speira, die wegen des hohen Strompreises Ende des Jahres schließt. „Wenn wir nicht ganze Industriezweige verlieren, sondern Wertschöpfungsketten erhalten wollen, muss der Strompreis zumindest vorübergehend subventioniert werden“, fordert Giesler, und zwar „für Klein- und Mittelbetriebe genauso wie für Großunternehmen“.
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Die Finanzierung wird so oder so nicht einfach, ob man grundsätzlich dafür ist oder nicht. Aus dem laufenden Haushalt, das ist Konsens, soll das Geld nicht kommen. Das Wirtschaftsministerium schielt auf den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), der 200 Milliarden Euro für die Strom- und Gaspreisbremsen ausgeben durfte, einen Großteil aber nicht brauchen wird. Schon rechtlich nicht möglich, heißt es dazu aus dem Wirtschaftsministerium. Über die Zulässigkeit der nächsten Großsubvention werden zudem auch die Brüsseler Wettbewerbshüter der EU mitentscheiden.
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IHK-NRW-Präsident Stoffels hielte es für einfacher, alle staatlichen Umlagen zu streichen, die Netzentgelte zu senken und die Stromsteuer auf das von der EU erlaubte Minimum zu senken. „Dann wäre der Strompreis wieder ungefähr auf dem Niveau von vor den multiplen Krisen bei ca. fünf Cent je Kilowattstunde“, rechnet er vor. Das wäre „ein wettbewerbsfähiger Industriestrompreis und käme allen Unternehmen zu Gute“.