Witten. Eickhoff schließt Getriebewerk, auch ZF spürt Krise der Windindustrie. Warum die Wittener weiter Windgetriebe bauen und keine Stellen streichen.
Wenn das der Sound der Energiewende ist, dann muss sie eine gigantische Hummel sein. Das tiefe Brummen füllt die ganze Werkshalle, es klingt nach einer gewaltigen Kraft, die einen für das Schweben zwischen Erde und Himmel viel zu großen Organismus beständig antreibt. Es ist das aktuell weltgrößte Windkraftgetriebe, das sie hier bei ZF in Witten bauen, für den Einsatz in mehr als 200 Meter hohen Meeres-Spargeln. Da Deutschland und Europa den Ökostrom-Ausbau massiv beschleunigen wollen, müsste das Geschäft brummen wie das 70-Tonnen-Ungetüm von Getriebe. Stattdessen steckt die Windindustrie seit Jahren in der Krise.
Der Bochumer Nachbar Eickhoff hat gerade angekündigt, sein Windkraftgetriebewerk in Sachsen zu schließen, weil die Kosten aus dem Ruder laufen. Fast alle großen Windradbauer in Europa verdienen derzeit kein Geld. Die spanische Siemens-Tochter Gamesa erlitt m vergangenen Jahr knapp einen Nettoverlust von knapp einer Milliarde Euro, Vestas, der dänische Marktführer für Windparks an Land, sogar mehr als 1,5 Milliarden Euro. Die IG Metall beklagt einen „ruinösen Unterbietungswettbewerb“ in der Wind- und Solarindustrie, die wiederum ruft Brüssel um Hilfe, Gamesa-Chef Jochen Eickholt forderte jüngst von der EU ähnlich hohe Subventionen für seine Branche wie sie die US-Regierung gerade ausschüttet.
„Die Politik muss nur aufs Knöpchen drücken“
Nicht nur für Außenstehende passt die europaweite Ökostrom-Offensive und die Krise der Industrie, die das bewerkstelligen soll, nicht zusammen. Das größte Problem in Deutschland und Europa seien die bürokratischen Hürden und langen Genehmigungsverfahren, sagt Reiner Viebahn, der Geschäftsführer des Wittener ZF-Werks. Denn: „Sonst ist alles da: Die Technologie, die Produkte und auch das Geld – die Investoren stehen bereit.“ Viebahn beschreibt eine Branche, die ungeduldig darauf wartet, dass es endlich in dem politisch gewollten Tempo losgeht mit dem Windkraft-Ausbau: „Wir stehen in den Startlöchern. Die Politik muss nur aufs Knöpfchen drücken.“
Startklar wie der Tieflader, der vor der Halle wartet. Er wird morgen Nacht mit einem der Großgetriebe Richtung Dänemark losfahren, der eskortierte Schwertransport wird dafür zwei oder drei Nächte unterwegs sein. Vestas gehört wie Siemens Gamesa, der amerikanische Weltmarktführer General Electric und Nordex zu den Kunden der Wittener Fabrik. Sie steht mitten im Stadtzentrum, das um die 1890 gebaute Fabrik von Lohmann und Stolterfoht herum entstand.
Das weltgrößte Windkraftgetriebe für Offshore-Anlagen mit 9,5 Megawatt (MW) Leistung ist das Aushängeschild. Der Besuch in der Werkshalle gleicht einem Spaziergang durchs Sonnensystem. Zwischen kleineren und größeren Planeten, so der Fachbegriff für Getriebe-Zahnräder, geht es zur riesigen Sonne, unter der sie nach und nach eingebaut werden. Sie wird hoch oben hinter den riesigen Rotorblättern die Drehungen auffangen, an die immer kleiner werdenden Planeten weitergeben und so aus den sehr langsamen Bewegungen immer schnellere Drehungen machen, mit denen schließlich der Stromgenerator angetrieben wird. Eines dieser Meeres-Windräder reicht aus, um rechnerisch 10.000 Haushalte mit Strom zu versorgen. Das Wittener Werk liefert dieser Tage das 700. Exemplar dieser Hightech-Getriebe aus.
Gleichwohl ist es für den Ruhrgebietsstandort mit seinen 650 Beschäftigten ein Glück, dass es auch anderen Branchen zuliefert, das Geschäft mit Getrieben und Kupplungen für Industrieanlagen, Großbagger, Tunnelbohrmaschinen oder Seilbahnen laufe gut. „Bei den Seilbahn-Getrieben sind wir Weltmarktführer“, sagt Produktlinienleiter Christoph Kainzbauer. Ein wichtiges und stabiles Standbein sei zudem das breite Servicegeschäft mit Wartung, Reparaturen und Runderneuerung von Getrieben. So könne man die Krise im europäischen Windkraftanlagenbau besser meistern als viele Unternehmen die nur in diesem Segment unterwegs sind.
ZF Witten plant keinen weiteren Stellenabbau
„Insgesamt arbeitet unser Werk rentabel“, betont Geschäftsführer Viebahn, „beim Windkraft-Geschäft werden wir in diesem Jahr beim Umsatz und der Gewinnmarge – wie die gesamte Branche – aber unter unseren Erwartungen bleiben“. Das geht schon länger so, auch in Witten wurden in den vergangenen Jahren Arbeitsplätze abgebaut, zuletzt 2020 rund 130 Stellen im Getriebewerk. Viebahn betont, dass es aktuell keinerlei Pläne für eine weitere Verkleinerung der Belegschaft gebe. „Wir müssen jetzt eine Durststrecke überstehen“, sagt er, „erwarten aber, dass der Markt 2024 wieder anzieht. Deshalb planen wir keinen weiteren Anpassungen.“
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Den Knoten lösen können nur viele neue Projekte und Ausschreibungen sowie schnellere Genehmigungen, für die der Bund zum Beispiel das Naturschutzgesetz angepasst hat. Denn wenn sich viele Unternehmen mit großen Kapazitäten um zu wenige Aufträge bemühen, sinken die Preise auf ein Niveau, das kaum mehr ausreicht, die Kosten zu decken. Das wiederum versuchen die Windradbauer auszugleichen, indem sie ihren Zulieferern weniger zahlen.
Hoffen auf einen Ausbau-Schub in den kommenden Jahren
Was für alle Beteiligten hinzukommt, sind die zuletzt extrem hohen Strompreise, die auch die verbauten Materialien, allen voran Stahl verteuert haben. Die Hoffnung für die kommenden Jahre ist, dass die Energiepreise mit den wirtschaftlichen Folgen des russischen Krieges in der Ukraine abnehmen. Und gleichzeitig der Ausbau endlich Fahrt aufnimmt. Anzeichen dafür gibt es, so kommen etwa die Pläne für neue, gigantische Meereswindparks vor Schweden und Finnland voran. Auch in Deutschland soll alles schneller gehen, nicht nur die Genehmigungen. So weisen derzeit einige Bundesländer neue Flächen für Windräder aus, woran es zuletzt gemangelt hatte, und verkleinern die Mindestabstände zu Wohngebieten.
Für die Hersteller entscheidend ist aber, dass die Ausschreibungen attraktiver werden. Zuletzt liefen sie nachgerade absurd ab, weil das Prinzip des niedrigsten Gebot auf den Kopf gestellt wurde: 2022 unterboten sich die Windradbauer nicht mehr, sondern verlangten in Ausschreibungen fast immer den Maximalpreis von zuletzt 5,88 Cent je Kilowattstunde. Der war vielen jedoch bereits zu niedrig, so dass etliche bereits genehmigte Projekte liegenblieben, weil sich niemand fand, sie umzusetzen. Das hat den Windkraft-Ausbau an Land weiter zurückgeworfen. Für 2023 hat die Bundesnetzagentur deshalb den Höchstwert für Windenergie-Ausschreibungen um ein Viertel auf 7,35 Cent angehoben.
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Für das Wittener Werk des Friedrichshafener Weltkonzerns ZF wäre der vom der Branche ersehnte Aufschwung in den kommenden Jahren das Ende der „Durststrecke“, wie Geschäftsführer Viebahn die Krise der Windindustrie nennt. Das Getriebe hat den Test überstanden und auch die Überlast von zehn statt 9,5 MW mit gleichmäßigem Brummen gemeistert. Nun wird es verpackt und bald auf hoher See den Wind einfangen, der Deutschlands Energiewende noch abgeht.