Essen. Wochenlang zu zweit in den eigenen vier Wänden – dennoch kommen in NRW aktuell weniger Kinder zur Welt. So beeinflusst Corona Familienplanungen.

Kommt es zu einem Stromausfall, wird die Geburtenstatistik neun Monate darauf besonders aufmerksam beäugt – doch was passiert, wenn pandemiebedingt eine ganze Gesellschaft „ausfällt“ und der eigene Partner oder die Partnerin der einzige Kontakt über Wochen ist?

Weniger Geburten in NRW-Großstädten

Aktuell werden die Meldungen einzelner Kliniken, in den letzten Wochen seien mehr Kinder geboren worden, schnell zu einem Corona-Babyboom erklärt. (-> Lesen Sie hier: Babyboom in Bochumer Geburtsklinik) Dass es diesen nicht gibt, zeigen nicht nur erste Statistiken für Nordrhein-Westfalen – auch Soziologinnen und Bevölkerungsforscher rechnen aktuell eher mit einem leichten Geburtenrückgang.

Im Coronajahr 2020 ist in Nordrhein-Westfalen die Zahl der Geburten um 0,7 Prozent gesunken. IT NRW meldet rund 169.140 lebend geborene Kinder in 2020. Zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten gibt es allerdings große Unterschiede: Während in Duisburg die Geburtenrate um 4,84 Prozent zurückging, stieg sie in Bochum um 4,68 Prozent an. (-> Lesen Sie hier: Deutlich mehr Geburten in Kliniken der St.-Elisabeth-Gruppe)

In Städten wie Köln und Bonn sank die Zahl der Geburten um über fünf Prozent, in Krefeld sogar um 6,46 Prozent – währenddessen kamen im Kreis Höxter 8,36 Prozent mehr Kinder zur Welt als im Vorjahr 2019.

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Geburtenbremse Wirtschaftskrise: Babywunsch wird aufgeschoben

Wie negativ sich wirtschaftliche Krisen auf die Geburtenrate auswirken können, erklärt Martin Bujard, stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Internationale Krisen wie beispielsweise die Weltwirtschaftskrise hätten in der Vergangenheit gezeigt, dass angesichts von Arbeitslosigkeit und Existenzängsten Geburten eher aufgeschoben werden.

Auch aus gesundheitlichen Gründen könnte ein Kinderwunsch nach hinten gestellt werden: „Manche Frauen haben große Angst, schwanger zu sein, dann Corona zu bekommen und bei einem schweren Verlauf nicht angemessen behandelt werden zu können“, sagt Bujard. Wieder andere fürchteten, während Ihrer Schwangerschaft keine Coronaschutzimpfung bekommen zu können. (-> Lesen Sie hier: In Essen kamen 2020 weniger Kinder zur Welt)

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Wie sich die Coronakrise auf Familien und Familienplanung auswirkt, erforscht auch Stefanie Leinfellner mit ihren Studierenden an der Universität Paderborn. Da Paare mit schon einem oder mehreren Kindern in der Pandemie besonders gefordert sind, dürften sich viele gegen weiteren Nachwuchs entscheiden.

Pandemie führt bei Müttern zu „Lebensunzufriedenheit“

„Betreuungsangebote und Freizeitaktivitäten fallen weg. Gerade bei berufstätigen Müttern, die Homeoffice und Homeschooling oft allein stemmen, führt das zu einer höheren Lebensunzufriedenheit,“ erklärt Leinfellner, „Aufgrund der in Zeiten von Corona nochmals potenzierten Ungleichverteilung und eventuell verstärkter Hemmnisse der eigenen Karriere könnte es sein, dass sich Frauen im Moment eher gegen ein weiteres Kind entscheiden, weil sie nicht noch mehr in diese Rolle hineinfallen wollen.“

Auch praktische Gründe könnten Paare dazu bringen, den Kinderwunsch zu vertagen. Fragen wie „Möchte ich im Lockdown schwanger sein?“ oder „Was ist, wenn ich als Vater nicht bei der Geburt dabei sein darf?“ spielten eine Rolle, erklärt die Wissenschaftlerin. Außerdem würden viele in 2020 geplante Hochzeiten verschoben und damit verbunden oft auch die Familienplanung.

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„Da eine Frau heute nicht selten später Mutter wird, verkürzt sich durch das Verschieben dieses Zeitfensters allerdings auch der sogenannte Puffer aufgrund ihres Alter“, sagt Leinfellner. Das Vertagen eines Kinderwunsches hat somit Grenzen.

Allerdings seien auch positive Auswirkungen auf die Geburtenstatistik möglich: Paare könnten im Shutdown den Wert von Familie höher schätzen. Wer bereits ein Kind hat, könnte nun bemerken, dass ein Geschwisterkind fehlt. (-> Lesen Sie hier: Steigende Geburtenzahl in Witten)

Coronakrise kann das Sexualleben von Paaren verändern

Bei kinderlosen Paaren sei die Lage eine andere, so Leinfellner: „Erste Ergebnisse von Wissenschaftlerinnen zeigen, dass es in einigen Beziehungen zu einer höheren Intimität beziehungsweise zu einer Veränderung des Sexuallebens gekommen ist.“ Paare, die mehr Gelassenheit und Zeit füreinander verspürt haben und coronabedingt keine Einschränkungen hinnehmen mussten, könnten sich nun bewusst für ein Kind entscheiden.

Wie viele Kinder in den kommenden Wochen und Monaten zur Welt kommen werden, lässt sich nur annähernd feststellen. Schwangerschaften werden durch das statistische Landesamt nicht erfasst. Allerdings sieht der Präsident des Berufsverbandes der Frauenärztinnen und -ärzte, Christian Albring, aktuell keine entscheidenden Veränderungen bei der Zahl der Schwangerschaften im Vergleich zum Vorjahr. (-> Lesen Sie hier: Was Pro-Familia-Experten Paaren für ein gutes Sexleben raten)

Schwangere fragten sich: In welche Zukunft setze ich dieses Kind?

Auch die kassenärztlichen Vereinigungen für Westfalen-Lippe und Nordrhein, bei denen alle Schwangerschaftsuntersuchungen abgerechnet werden, melden keine Zunahme. Allerdings sind die Zahlen aus dem letzten Quartal des Jahres 2020 noch nicht vollständig ausgewertet.

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Ein frühes Indiz für die Gesamtzahl der Schwangerschaften gibt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche. Britta Kaufmann, die in Recklinghausen in einer der meist frequentierten Pro-Familia-Beratungsstellen in NRW arbeitet, berichtet: „Die Zahl der Schwangerschaftskonfliktberatungen ist in 2020 konstant geblieben.“

Im Vorfeld einer Abtreibung sei Corona nur eine von mehreren Sorgen, die die Schwangeren beschäftigten. Doch auch gewollt Schwangere seien coronabedingt sehr belastet, berichtet Kaufmann aus ihren Beratungsstunden, „Schwangerschaften werden als unsicherer wahrgenommen. Die Frauen fragen sich: ,In welche Zukunft setze ich dieses Kind?'"