Oberhausen. Viele Paare fühlen sich mit ihrem Sexualleben durch die Flut an Bildern, Texten und Filmen stark unter Druck. Pro Familia Oberhausen gibt Tipps.

Wenn man sich mit den Oberhausener Sexualfachleuten von Pro Familia über die schönen und dunklen Seiten der menschlichen Sexualität unterhält, dann wird bei allen unterschiedlichen Themen der ratsuchenden Gruppen, Paare und Singles schnell ein roter Faden sichtbar: In sexuellen Fragen empfinden viele Menschen jeglichen Alters einen hohen Druck – und das trotz oder gerade wegen der seit Jahren anhaltenden Flut von Texten, Bildern und Filmen über alle merkwürdigen und gewöhnlichen Spielarten der körperlichen Liebe.

„Schneller, höher, weiter“, beschreibt Andreas Müller, Sexualpädagoge und Leiter der Oberhausener Beratungseinrichtung, die Jagd nach Rekorden in den Köpfen vieler Paare. Das Prinzip der marktwirtschaftlichen Leistungsgesellschaft hat längst Einzug in die Betten der Paare gehalten - und ist nicht nur bei den ganz jungen angehenden Männern („Wer hat den längsten?“) anzutreffen. In amerikanischen Großstadt-Serien bewerten Karriere-Frauen ihre Spielpartner wie einst Cowboys beim Rodeo-Reiten und hippe Werbekaufleute Frauen nach Körbchengrößen.

Weitschweifige Varianten des Sexlebens

Selbst im abendlichen Bettsport geübte Paare erliegen dem Reiz der Idee, Schwierigkeiten in der Beziehung mit immer weitschweifigeren Varianten ihres Sexuallebens zu erfüllen. „Vielleicht sollten wir mal in den Swinger-Club gehen oder es mit einer Peitsche versuchen“, meinte ein älteres Ehepaar in der Beratungsstunde. Müller gibt da lieber mal den nur scheinbar einfachen Rat, mal anzufangen, einfach liebevoller miteinander umzugehen, Händchen zu halten, die Haut wieder zu spüren, sich gegenseitig mehr zu streicheln.

Das Team von Pro Familia Oberhausen: (von links nach rechts) Ulrike Pollmann, Katja Schwedersky, Susanne Kaltwasser, Andreas Müller, Dr. Christine Gathmann, Rosalia Kurth, Svenja Holz und Karin Horn.
Das Team von Pro Familia Oberhausen: (von links nach rechts) Ulrike Pollmann, Katja Schwedersky, Susanne Kaltwasser, Andreas Müller, Dr. Christine Gathmann, Rosalia Kurth, Svenja Holz und Karin Horn. © Pro Familia | Pro Familia

Obwohl im Internet so viel Sexualaufklärung wie nie zuvor allen Altersgruppen zur Verfügung steht, zeigen sich in Sexfragen nach Beobachtung der Oberhausener Fachleute viele Menschen sehr verunsichert – weil man sich nicht wie in seligen Dr.-Sommer-Bravo-Zeiten darauf verlassen kann, dass die Informationen aus dem Intimleben von Menschen im Internet wirklich stimmen. „Es herrscht eine große Verwirrung über die vielfältigen Möglichkeiten“, meint Müller.

Möglichst viele Sex-Stellungen sinnvoll?

Der frei zugängliche Konsum von Pornos führt nicht nur bei Jugendlichen zu falschen Vorstellungen: Sie schätzen die durchschnittliche Penis-Länge auf 16 bis 20 Zentimeter (tatsächlich: 12,5) und glauben, man müsse sich mit möglichst vielen Stellungsvarianten als Paar verrenken. Bei einigen Jungs müssen die Aufklärer in Schulen ganz Grundlegendes vermitteln: „Wenn man jemanden liebt, dann schlägt man ihn nicht.“ Bei denjenigen, die zuviel Porno-Bilder im Kopf haben, hilft auch ein gedanklicher Rollenwechsel: „Hättest Du das denn gerne, wenn man das mit Dir macht?“

Die Suchtgefahr durch Pornos

Mit Pornos haben aber auch ältere Zeitgenossen Schwierigkeiten, weil sie plötzlich deren Konsum nicht mehr kontrollieren können –zwei bis drei Fälle von regelrechter Pornosuchttauchen in der Beratungsstelle an der Bismarckstraße 3 im Jahr auf. Ein Mann küsste nicht mehr seine Frau, sondern verschwand immer wieder alleine in den Keller, um Pornos zu schauen – das Paar wunderte sich dann, dass ihr Sexualleben schon seit vielen Monaten auf Eis lag, weil der Mann irgendwie keine Lust mehr aufs echte Liebesleben hatte.

Die Beratungsstelle von Pro Familia Oberhausen ist an der Bismarckstraße 3 in Alt-Oberhausen untergebracht.
Die Beratungsstelle von Pro Familia Oberhausen ist an der Bismarckstraße 3 in Alt-Oberhausen untergebracht. © mape | mape

Andere Ratsuchende wiederum zeigten sich im Gespräch verwundert, dass ein über 50-jähriger Mann Sexualität anders erlebt als ein Jungspund. Was da so mancher als körperliches Leiden empfindet, ist bei den meisten eine ganz normale Alterserscheinung. Viagra kann nach Beobachtung der Sexualpädagogen zwar Hilfe sein, erhöht aber erneut den Druck auf Paare: Damit muss doch alles so klappen wie früher. Dabei sorgt die blaue Pille für den Mann nur für eine bessere Durchblutung und nicht für die notwendige sexuelle Erregung.

Viele reden nicht über ihr Sexualleben

Helfen würde ja auch, wenn viel mehr Menschen einfach mehr über Sex reden würden, doch das ist in den meisten Kreisen, auch unter Freunden, immer noch ein Tabu. Wie einst vor den Geschlechter- und Gleichberechtigungsdiskussionen der 70er Jahre, vor der sexuelle Befreiung durch die Generation der 68er, verhalten sich Männer und Frauen auch heute noch recht traditionell – so ist zumindest die Erfahrung von Diplom-Psychologin Karin Horn: „Männer haben es schwer, über ihre eigenen Gefühle zu nachzudenken und zu sprechen. Mit ihren Freunden reden sie meist nicht darüber; die Frauen holen sich dagegen Rat bei ihren besten Freundinnen.“

Wie man Pro Familia erreichen kann

Die Oberhausener Beratungsstelle von Pro Familia ist in einer alten Villa an der Bismarckstraße 3 in Alt-Oberhausen nahe der Mülheimer Straße untergebracht. Telefonisch sind die Berater unter der Nummer 0208-867771 und per Mail an oberhausen@profamilia.de zu erreichen.

Die Beratungsstelle mit acht Teilzeitkräften finanziert sich zu 80 Prozent aus Landesmitteln. 20 Prozent kommen mit Spenden und einem städtischem Zuschuss von rund 80.000 Euro zusammen. Während die Beratung Jugendlicher und die Schwangerschaftskonfliktberatung kostenlos sind, sollten Erwachsene, die die Paar- und Sexualberatung in Anspruch nehmen, bis zu zwei Prozent ihres Monatsbruttoeinkommens als Honorar zahlen.

Im vergangenen Jahr hat Pro Familia in Oberhausen 460 Schwangerschaftskonfliktberatungen gemacht und 947 Mal bei Schwangerschaften und für ein besseres Sexual- und Beziehungsleben beraten. Hinzu kamen noch 44 Beratungen in Fällen sexualisierter Gewalt. Zudem wurden 14 Schulklassen und 61 Gruppen sexualpädagogisch aufgeklärt.

Müller empfiehlt grundsätzlich, den „Tunnelblick auf den Geschlechtsverkehr“ zu beenden und auf mehr Zärtlichkeit und neue Varianten zu setzen – statt höher, öfter und weiter, lieber langsam, weniger und intensiver. „Das größte Sexualorgan ist die Haut.“ Und Orgasmus hin oder her – „manche Paare kommen hier hin, die mühen sich wer weiß wie ab, und fühlen sich danach nicht besonders gut – dabei muss es nicht immer ein Orgasmus sein“ (Horn).

Jugendliche schätzen wahre Treue und echte Liebe

Die Reaktion der Jugendlichen auf diese komplexe Welt der Sexualität ist angesichts der Flut an bunten offenherzigen Bildern und Texten mal wieder erfrischend anders. Wenn Katja Schwedersky und Andreas Müller Schulklassen mit Schülern im Alter zwischen 11 und 15 Jahren beraten (getrennt in Jungen und Mädchen), dann erfahren sie auch, wie wichtig den Jugendlichen wahre Treue, echte Liebe und tiefes Vertrauen ist. In der Praxis und in Studien zeigt sich, dass Mädchen und Jungs auf die Frage, wann es nach ihrer Meinung zum ersten Geschlechtsverkehr kommen sollte, heutzutage antworten – mit 16 oder 17 Jahren. Vor zehn Jahren lag dieser Idealzeitpunkt in den Augen der jungen Jugendlichen noch einige Jahre früher.

Mädchen treten viel selbstbewusster auf

Was Diplom-Pädagogin Susanne Kaltwasser, Fachfrau für die Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt, besonders freut, ist die Beobachtung, dass die Mädchen heutzutage viel selbstbewusster sind als in früheren Generationen. „Wenn mein Freund mit mir schlafen will und ich nicht, dann sage ich Nein. Und wenn der dann noch hartnäckig weiter fragt, dann schieße ich den ab“, sagen Mädchen zu Kaltwasser. Sie hören eben auf ihre Gefühle – was viele Menschen offenbar viel zu wenig machen.