Berlin. Die Menschen in Ostdeutschland sind besser als ihr Ruf, lautet das Ergebnis einer neuen tiefenpsychologischen Studie. Die Untersuchung räumt mit vielen Vorurteilen auf - und sagt den Westdeutschen, was sie von ihren Nachbarn in den neuen Bundesländern lernen können.

Sie sind realistischer, bescheidener, verständnisvoller - und leiden zumeist still an fehlender Anerkennung: Viele Ostdeutsche fühlen sich auch 20 Jahre nach dem Mauerfall als Deutsche zweiter Klasse. Das geht aus einer am Donnerstag in Berlin präsentierten Studie des Rheingold-Instituts hervor. Die Untersuchung widerlegt auch das Klischee vom in Ostalgie schwelgenden „Jammer-Ossi“. Vielmehr könnten von ihren Erfahrungen auch Westdeutsche profitieren - wenn sie denn zuhörten.

„Vom Osten lernen heißt, Krisen zu bestehen lernen“, sagte Instituts-Geschäftsführer Stephan Grünewald bei der Präsentation. Gerade angesichts der Wirtschaftskrise könne der Westen von den alltäglichen Bewältigungsstrategien des Ostens profitieren. Denn der Osten habe bereits eine weitaus erschütterndere Krisenzeit durchgestanden - den Zusammenbruch eines ganzen Lebenssystems.

Die Menschen im Osten hätten die Qualitäten eines Stehaufmännchens, sagte Grünewald. „Sie haben es geschafft, gravierenden gesellschaftlichen und privaten Umbrüchen zu trotzen und ein eigenes und neues Selbstbewusstsein zu entwickeln.“ Allerdings litten sie darunter, dass ihre Fähigkeiten immer noch viel zu wenig vom Westen wahrgenommen würden und dass alles, was seinen Ursprung im Osten habe, pauschal diskreditiert werde.

Errungenschaften werden nicht geachtet

Zudem ärgere sie, dass die bereits gemachten Erfahrungen mit Errungenschaften wie Kleinkinderbetreuung und Ganztagsschulen nicht beachtet würden. Gipfel der Ignoranz sei es, wenn selbst in Filmen über DDR-Geschichte West-Schauspieler die Hauptrollen spielten. Dieses Gefühl der Ohnmacht schüre eine schwelende Wut. Viele fühlten sich gekränkt und enttäuscht. Offen gezeigt werde dies aber meist nicht. „Die Mehrheit der Ostdeutschen meutert eher still“, betonte Grünewald.

Wegen der Missachtung des Westens sei es auch zu einer Ost-Idealisierung gekommen, die aber meist falsch verstanden werde, sagte Grünewald. „Verklärt wurde und wird von den Menschen nicht das politische System oder der Unrechtsstaat, sondern der halbwegs funktionierende Alltagsbetrieb. Denn hier fanden die Menschen Halt, Rhythmus, Sicherheit, Arbeit, Gemeinschaft und kleinere Vergnügungen.“

Merkel als "Schutzengel"

Die Menschen im Osten begegneten überzogenen Träumen mit einem konstruktiven Misstrauen und Realismus, „der sich deutlich von den oft überbordenden Glücks- und Renditeansprüchen des westlichen Maximierungsdenkens abhebt“, sagte Grünewald. Denn sie hätten mehrfach erfahren, dass glorreiche Versprechungen oft zu einem ebenso enttäuschenden Zusammenbruch führen könnten. Die Finanzkrise bestätige die Haltung vieler Ostdeutscher, dass es besser sei, bescheidene und lebenspraktische Wünsche zu hegen.

Von ihrer ostdeutschen Herkunft profitiere auch die Bundeskanzlerin, so die Autoren der Studie. Angela Merkel werde als „Schutz- und Vermittlungsengel“ erlebt und besteche mit ihren „fürsorglichen, umkümmernden und ausgleichenden Qualitäten“, heißt es in der Studie. Merkels Harmonisieren sei eine typisch ostdeutsche Reaktion auf Konflikte.

Für die Studie „Die Ostdeutschen 20 Jahre nach der Wende“ befragte das Kölner Institut im Auftrag der Zeitschrift „Super Illu“ 80 Bürger im Alter von 18 bis 70 Jahren. Gesprochen wurde in zweistündigen tiefenpsychologischen Interviews unter anderem über ihren Alltag, ihre Sehnsüchte und Ängste und das Ost-West-Verhältnis heute. (ddp/ap)