Kirchlengern. .

Diesen Moment wird Helena Wiebe wohl nie vergessen. Den ganzen Morgen über hat sie telefoniert, hat, wie so viele im Lehrerkollegium, versucht, irgendetwas zu erreichen, damit Harut nicht das Land verlassen muss. Und jetzt hört sie die Stimme ihres Schülers am Handy: „Frau Wiebe, ich muss jetzt hier abbrechen. Ich muss einsteigen!” 12.15 Uhr sei es da gewesen, am 19. Mai, dem Tag von Haruts Abschiebung. Schon vor dem Flugzeug stehend, sei er zusammengebrochen, habe geweint. Um 12.30 Uhr dann gibt es keinen Kontakt mehr zu ihm.

Weihbischof konnte nicht helfen

Harut, er ist tatsächlich fort, lebt seitdem in Armenien, dem Land seiner Eltern. Abgeschoben nach elf Jahren in Deutschland, zusammen mit seiner Familie. Doch die Schüler und Lehrer der Erich-Kästner-Gesamtschule im ostwestfälischen Kirchlengern geben nicht auf, für ihn zu kämpfen. Sie engagierten eine Anwältin, eine Expertin für Asylrecht. Sie diskutierten mit Richtern und der Ausländerbehörde. Sie informierten den Paderborner Weihbischof und schrieben eine Petition an den NRW-Landtag. 5000 Euro sammelten sie bei einem Sponsorenlauf, mit Autowaschen und Gärtnern.

Nicht umsonst! Am Ende der Sommerferien signalisierte ihnen die Ausländerbehörde des Kreises Herford, es gebe da noch eine Chance für Harut. „Offenbar hatte es Gespräche zwischen dem Ausländeramt und dem Innenministerium gegeben”, sagt Eberhard Baecker, der Leiter der Erich-Kästner-Gesamtschule. Man sei bereit, die Abschiebung aus humanitären Gründen auf einen Tag zu befristen, was nichts anderes bedeutete, als eine Wiedereinreise zu ermöglichen. Voraussetzung sei, dass die Kosten der Abschiebung bezahlt würden und Harut, der ja alleine zurückkäme, von jemanden aufgenommen werde. Bizarr, aber wahr: Die Schüler legten 3000 Euro von ihrem für Harut gesammelten Geld auf den Tisch. So viel, wie seine Abschiebung gekostet hat. Zudem erklärte sich die Mutter von Haruts Freund Rodi bereit, ihn bis zu seinem Abitur aufzunehmen. Die Ausländerbehörde informierte daraufhin sogar die deutsche Botschaft in Eriwan, dass sie einer Aufenthaltsgenehmigung für Harut im vorab zustimme.

Die Mühlen der Bürokratie

Was wie ein Happy End klingt, ist jedoch keines. Denn Harut ist längst in die bürokratische Maschinerie Armeniens geraten. Während seine Eltern dort mühelos einen Pass erhielten, wird der ihm und seinem älteren Bruder Tigran verweigert. „Wir könnten ja wieder verschwinden, haben sie gemeint. Und, dass wir erst nach zwei Jahren Militär einen Pass bekommen”, erzählt Harut, den die WAZ in diesen Tagen im armenischen Artashat besuchte, wo er inzwischen im Haus der Großeltern wohnt.

Ohne Militärdienst kein Pass, ohne Pass kein Visum. Haruts Traum, das Abitur zu machen und Jura zu studieren, scheint wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Dabei halten sie in Kirchlengern für ihn einen Platz in der Klasse 11 frei. Sie mögen ihn alle, Lehrer wie Schüler. Schätzen, wie er sich eingesetzt hat, als Klassensprecher und Streitschlichter. So beliebt ist er, dass sie bis heute den Kontakt zu ihm aufrecht erhalten.

Dabei haben sie sich in diesen Wochen oft so hilflos gefühlt. „Wir sind ja unerfahren gewesen, keine Profis in Sachen Menschenrechtsverletzung – was Haruts Abschiebung für uns ist”, sagt Schulleiter Baecker und gibt zu, dass er auch stolz auf dieses Engagement sei, „gerade in einer Zeit, in der es oft heißt, es gebe zu viele Ausländer im Land”. Die Abschiebung Haruts habe sie eine Welt kennenlernen lassen, „von der wir im schönen Kirchlengern nicht gedacht haben, dass sie existiert”.

Um drei Uhr morgens hatte die Zentrale Ausländerbehörde, verstärkt durch Polizisten, Harut und seine Familie aus den Betten geholt. Für geradezu absurd hält Haruts Klassenlehrer Roland Drossert die Behauptung der Ausländerbehörde, man habe von der letzten Prüfung des Jungen an diesem Tag nichts gewusst: „Wir standen mit dem Amt schon seit einem Jahr in Kontakt, es hatte angefragt, wann er seine Fachoberschulreife haben würde, wann sein Abitur.”

„Inhuman!”, sagt auch Sigrid Beer, Sprecherin der Grünen im NRW-Petitionsausschuss, „diese Abschiebung hätte nie geschehen dürfen.” Beer will sich an den Petitionsausschuss des Bundestages sowie das Auswärtige Amt wenden. Vor allem aber will NRW-Integrationsminister Laschet Außenminister Steinmeier auf den Fall aufmerksam machen (siehe Interview). Neue Hoffnung also für Harut?