Artaschat. Wenige Monate erst lebt Harut in Armenien - in einem Land, dessen Sprache er kaum spricht. Doch den Behörden gilt es als Heimat des 18-Jährigen. In Deutschland hatte er beste Aussichten auf einen glänzenden Schulabschluss, bis seine Familie wegen Asylbetrugs abgeschoben wurde.

Mitten in der Nacht kamen Polizisten und rissen Harut aus dem Schlaf und aus seinem gewohnten Leben. Der in Deutschland aufgewachsene Musterschüler wurde mit seiner Familie nach Armenien abgeschoben - nur einen Tag vor seiner Schulabschlussprüfung.

Verpflanzt in ein fremdes Land

Bevor sie kamen, da war Harut ein fast normaler Junge aus dem ostwestfälischen Kirchlengern. Er war Klassensprecher, Streitschlichter an der Erich-Kästner-Gesamtschule, und er gab jüngeren Schülern Nachhilfe in Englisch. Bevor sie kamen, war die Welt für ihn in Ordnung. Am 19. Mai, um drei Uhr früh, kamen Polizisten und Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde, rissen die Familie aus dem Schlaf, bugsierten sie in einen Bus und danach in ein Flugzeug. Harut, der Junge, der so gerne sein Abitur machen wollte, lebt seitdem in Armenien. Für ihn ein fremdes Land, eines, in dem er keine Chance, keine Zukunft hat.

Harut Vardanjan in der alten Wohnung seiner Eltern mit seinen Tanten und Vater und Mutter. Bilder: Jakob Studnar - www.fotostudnar.de
Harut Vardanjan in der alten Wohnung seiner Eltern mit seinen Tanten und Vater und Mutter. Bilder: Jakob Studnar - www.fotostudnar.de

Vostan, nahe bei Artashat, hatte Harut am Telefon gesagt, aber der Taxifahrer aus der Hauptstadt Eriwan hat Mühe, den kleinen Ort zu finden. Also telefonieren wir noch einmal, vereinbaren einen Treffpunkt, und plötzlich steht er da, vor der Post von Artaschat, etwas verlegen lächelnd. „Die Scharfen gehen, der Nachgeschmack bleibt!” steht in deutscher Sprache auf seinem leuchtend blauen T-Shirt. Sie haben es ihm nachgeschickt nach Armenien. Seine Mitschüler aus der zehnten Klasse, die jene Abschlussprüfung ablegen konnten, die auch er beinahe geschafft hätte. Wären sie nicht gekommen, wenige Stunden vor der letzten, vor seiner Prüfung in Mathematik.

Warten auf den Einzug zum Militär

Elf Jahre seines Lebens wuchs Harut in Deutschland auf, als Kind einer Familie, die Asyl beantragt hatte und abgelehnt wurde. Nun ist der 18-Jährige hier, im Land der Eltern. Die Großeltern nahmen sie wieder auf, in ihrem mit Wellblech gedeckten Steinhaus. Vorn die staubige, unbefestigte Straße, hinten der Garten, in dem sie Tomaten, Auberginen und Bohnen anbauen. Viel mehr hat die Familie nicht. Haruts Großeltern leben von 60 Euro Rente monatlich, eine Tante arbeitet für drei Euro pro Tag in einer Bäckerei.

Wie ein Alptraum kommt Harut dies alles vor. Er und sein ein Jahr älterer Bruder Tigran schlafen seit der Abschiebung schlecht, Tigran leidet unter Angstzuständen. Deutsch, die Sprache, mit der sie aufwuchsen, sprechen sie perfekt, Armenisch nur rudimentär. Lesen oder schreiben können sie diese Sprache schon gar nicht. „Das Leben hier ist leer, pure Langeweile. Wir können nicht zur Schule gehen, nicht arbeiten”, sagt Harut. Nur mühsam begreift er, dass dies nun seine Realität ist. Dies und die Tatsache, dass das Militär kürzlich anklopfte. Im November wollen sie ihn einziehen, jeden Tag rechnet er mit seiner Musterung.

Kein Asyl wegen falscher Identität

1998 waren die Vardanjans, Harut und seine Familie, nach Deutschland gekommen. Der Konflikt Armeniens mit dem Nachbarn Aserbaidschan war zwar offiziell beigelegt, sorgte aber immer wieder für Unruhe. Zudem hatte Nune Vardanjan, die Mutter, ihre Arbeit als Krankenschwester verloren. Um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten, beschlossen sie auszuwandern. Über Russland nach Deutschland. „Ein demokratisches Land!” hatten ihnen die Schleuser empfohlen und auch, sich als Armenier aus Aserbaidschan auszugeben.

Immer weniger Asylbewerber

2008 beantragten in Deutschland 22 085 Menschen Asyl, also die Anerkennung nach Artikel 16 a des Grundgesetzes. Auf dem Luftweg abgeschoben wurden in dieser Zeit 7778 Menschen. Laut Menschenrechtsorganisation Pro Asyl war das die niedrigste Antragszahl der letzten 20 Jahre.

Durchschnittlich werden 85 Prozent der Anträge abgelehnt. Die Betroffenen müssen die Bundesrepublik verlassen. Eine vorläufige, oft Jahre dauernde Duldung erhält, wer nicht reisefähig ist oder keinen Pass besitzt. Manchmal lässt auch die Situation im Herkunftsland die Rückkehr nicht zu.

Wegen dieser falschen Identität jedoch wurde ihr Asylantrag bald abgelehnt, sie selbst im Land nur geduldet, bis ihre Herkunft geklärt war. „Die Täuschung über das Herkunftland war der Grund für die Abschiebung. Unser Ausländerrecht gibt uns klar auf, wie wir vorgehen. Wir wussten, dass Harut sich in der Abschlussklasse befand, wann er jedoch seine Prüfung hatte, war uns nicht bekannt”, erklärt Paul Bischof, als Ordnungsdezernent des Kreises Herford auch Chef der Ausländerbehörde.

Fachoberschulreife um wenige Stunden verpasst

Es ist der 18. Mai 2009. Der Tag vor Haruts letzter Prüfung, mit der er die Fachoberschulreife erreichen will. Jura studieren, das ist sein Traum. Vor drei Tagen erst hat er mit Freunden seinen 18. Geburtstag gefeiert. Nun lernt er Mathematik. Nichts ahnend und etwas aufgeregt wegen der Prüfung, geht er an diesem Abend ins Bett. „Auch für mich kam die Abschiebung aus heiterem Himmel”, sagt Michael Kolostori, der Anwalt der Familie. Bis zuletzt hatte er die Vardanjans in Sicherheit gewiegt. Wegen des Gutachtens, das dem Vater eine Nervenkrankheit attestierte, werde man sie nicht abschieben.

Doch dann kommt alles anders: In diesen letzten Stunden in Deutschland telefoniert Harut wie verrückt mit Freundin Jacqueline, mit seiner Lehrerin Helena Wiebe. Doch auch ein vom Anwalt angestrengtes Eilverfahren, mit dem die Abschiebung verhindert werden soll, scheitert. Gegen Mittag des 19. Mai besteigen die Vardanjans das Flugzeug in Richtung Armenien. Harut ist verzweifelt, bricht zusammen.

Vier lange Monate sind seitdem vergangen. Und die Freunde in Deutschland, sie haben Harut nicht vergessen. Nur wenige an seiner Schule sind so beliebt wie er, der als einer der leistungsstärksten Schüler gilt. Seit er gezwungen wurde zu gehen, setzen sie sich für ihn ein. Sammelten Unterschriften und Geld, engagierten eine Anwältin, sprachen beim Weihbischof vor, bei Ministerpräsident Rüttgers. Und der öffentliche Druck wirkt: Weil sich die Mutter seines Freundes bereit erklärt, Harut aufzunehmen, bis er sein Abitur gemacht hat, nimmt die Ausländerbehörde tatsächlich die Abschiebung zurück.

Die Hoffnung sinkt

Harut mit seiner Familie. Von links: Tante, Vater, Großvater, Tante, Mutter, Harut und sein Bruder Tigran. Bilder: Jakob Studnar - www.fotostudnar.de
Harut mit seiner Familie. Von links: Tante, Vater, Großvater, Tante, Mutter, Harut und sein Bruder Tigran. Bilder: Jakob Studnar - www.fotostudnar.de

Haruts Rückkehr stünde eigentlich nichts mehr entgegen. „Wenn er denn einen Pass h��tte...”, sagt Catrin Hirte-Piehl, Haruts Anwältin, „den bekommt er aber erst nach dem Militärdienst”. Die Chance, dass ihm die deutsche Botschaft einen Ausländerpass ausstellt, mit dem er ein Visum für Deutschland beantragen könnte, beurteilt die Asyl-Expertin als schlecht: „Die deutsche Botschaft in Armenien gilt als eine der härtesten!”

So ziehen die Tage für Harut vorbei. Und mit jedem sinkt die Hoffnung. Aufstehen. Mit den neuen Freunden zusammen sitzen. Essen. Schlafen. Mehr nicht. Die Bücher der elften Klasse, die er sich von seinen Lehrern schicken ließ, rührt er nicht mehr an: „Ich kann nicht erst zum Militär und mit 20 in die elfte Klasse”.

Als wir wegfahren, von Harut und seiner Familie, stieben die schwarzen Hühner der Nachbarn durch den Staub der Straße. Und Harut schließt die Tür hinter sich.

Demnächst: Wie Haruts Schule für seine Rückkehr kämpft.